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Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela,
„Ich liege gerade im Tiergarten und habe beschlossen, der Kanzlerin einen Brief zu schreiben.“
Mit diesen Worten rief Ulrich Matthes mich vergangene Woche an. Seine schöne Stimme klang ziemlich erregt.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, antwortete ich.
„Und du sorgst dafür, dass sie ihn auch liest. Schließlich seid ihr befreundet.“
„Mach ich, aber vergiss nicht, dass die Ärmste Ärger genug hat.“
Über diese meine schnoddrige Antwort ärgerte ich mich sofort. Denn die Kanzlerin will und braucht kein Bedauern. Bloß nichts Herablassendes, dagegen ist sie allergisch. Eine „Ärmste“ ist sie nicht. Einen Brief kann man ihr zumuten. Also schreibe ich einen Brief an die Kanzlerin, einen öffentlichen natürlich, aber auch einen privaten. Denn was immer das heißt: „Ihr seid befreundet“ – wir kennen uns fast zwanzig Jahre. Da muss ein ernstes Wort erlaubt sein.
Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela,
unser Jubel war nicht so exaltiert wie beim Fußball – die Freude war ergreifender. Zum ersten Mal eine Frau! Das hatte es bei uns nicht mal zu Zeiten der Monarchie gegeben. Außerdem kamst Du nicht aus der Politik. Und nicht aus dem Westen! Wir waren stolz auf Dich und stolz auf die Wähler, die über viele Schatten gesprungen sind. Das hätte ich uns Deutschen nicht zugetraut! Die Euphorie hielt vier Jahre. Dein Auftreten war erfrischend. Die Sprache persönlicher als die üblichen Floskeln der Politik. Das Ergebnis war zwar so knapp, dass es nur in einer großen Koalition umzusetzen war. Aber die Mannschaft spielte sich schnell ein, und Du hast ein unerwartetes Geschick bewiesen, die so unterschiedlichen Lager auf eine Linie zu bringen. Im nächsten Wahlkampf habe ich Dich umso begeisterter unterstützt. Hier im Cicero habe ich ein Porträt von Dir gemacht, das heißt, ich habe Dich so genau und so persönlich beschrieben, wie Du mir erlaubt hast, Dich kennenzulernen.
Deshalb kommt mir das „Du“ – seit Jahren vertraut zwischen uns – als Anrede irgendwie plump vor. Das gespreizte „Sie“ wäre auch nicht besser. Wie gut hat man es da im Englischen mit dem „You“. Ich versuche es mal in der dritten Person: Wie sehr habe ich den Auftritt Angela Merkels vor dem versammelten Kongress und Senat in Washington bewundert. Sie hat von ihrer Ankunft in Amerika gleich nach der Wende erzählt. Wie sie mit Joachim Sauer zum ersten Mal Amerikanern begegnet ist, und wie sie, aus der DDR kommend, erlebt hat, dass die Worte „freedom“ und „democracy“ keine leeren Floskeln sind. Die Abgeordneten waren so begeistert von der direkten, offenen Art dieser Ansprache, dass sie der deutschen Kanzlerin eine standing ovation darbrachten. Das war der Auftakt zur zweiten Amtszeit, und ich fragte mich, warum sie zu Hause nicht auch einmal so offen, so frei, so zwanglos redete – in der Öffentlichkeit. Jedenfalls erwartete ich, dass sie, nun in einer gesicherten Mehrheit, den „Ruck durch das Land“ gehen lassen würde.
Wie kommt es also, dass ich, wo immer ich hinkomme, im In- und Ausland, sie verteidigen muss? „Deine Kanzlerin“ dies, „deine Freundin“ das. Nichts ist mehr recht. Alles macht sie falsch. Alle Vorzüge kippen ins Gegenteil: „ist eben eine Frau, ist eben aus dem Osten, ist eben keine Politikerin“. Das tut weh. Aber es geht nicht um Befindlichkeiten. Es geht um die res publica. Reden wir also Tacheles. Das Zögern bei der Griechenland-Krise kann ich nur zu gut verstehen. Schließlich ist Ökonomie keine exakte Wissenschaft. Rezepte sind experimentell nicht nachprüfbar. Ist es besser für Griechenland und für den Euro, sich abzukoppeln, zur Drachme zurückzukehren, abzuwerten und als Billigland attraktiv für Touristen aus aller Welt zu werden? Oder ist es besser, mit einem Riesenpaket, das irgendwann bezahlt werden muss, den Staat zu stützen, der mit anderer Leute Geld über seine Verhältnisse gelebt hat? Fragen, bei denen man wirklich ins Zögern kommt.
Bei einer Diskussion in Amsterdam vor ein paar Wochen ging ausgerechnet Dominique de Villepin mich an wegen „meiner Kanzlerin“. Und zwar mit den gleichen Vorwürfen, die sein Erzrivale Sarkozy ihr macht: „Warum arbeitet ihr Deutschen so viel? 36 Stunden die Woche genügen. Und in Rente mit 60. Und öfter mal streiken. Und überhaupt mehr konsumieren. Und weniger exportieren.“ So lautete seine Kritik – nicht wörtlich, in der Substanz aber schon. Auch hier ist wissenschaftlich nichts beweisbar: Ist es besser, Geld auszugeben und Schulden zu machen? Oder sollte die Maxime gelten: „Genug ist genug, ab jetzt wird gespart“, weil nur so die Bürger Vertrauen gewinnen und auch wieder konsumieren?
Alles Theorie. Franzosen benutzen schon seit Colbert die Finanzen als Instrument der Politik. Die Deutschen wollen nach drei Währungsreformen den Euro aus der Politik raushalten und die Stabilität als ihr goldenes Kalb anbeten, antworte ich. Geht das in einer Welt, in der nichts stabil, in der alles dynamisch ist? Die Naturwissenschaftlerin müsste es wissen; die Kanzlerin zögert. Ich kann sie verstehen. Die Amerikaner dagegen werfen ihr das Zaudern vor. Schlägt sie zurück und gibt den Banken die Schuld, gar den Spekulanten, ist die Empörung groß. Solches Fingerdeuten auf einzelne Schuldige gehe an den Gesetzen des Marktes vorbei, schüre obendrein irrationale Stimmungen gegen diese oder jene, gibt ein alter Banker zu bedenken, der weder Wucherer noch Spekulant ist. Der Markt vollziehe nur, was die Politik in Maastricht versäumt hat, nämlich der gemeinsamen Währung auch ein Fundament in einer gemeinsamen, verbindlichen Fiskalpolitik zu geben. Wie Wasser immer eine Stelle findet, um zu Tal zu fließen, so wissen auch Finanzströme Schwächen und Brüche zu erkennen. Der Markt als Naturgewalt, der brüchige Währungen und unsolide Staatshaushalte hinwegfegt. Was soll die Kanzlerin dagegen tun? Sie muss unsere Gesellschaft gegen solche Naturgesetze schützen.
Du siehst, liebe Angela, bis hierher kann ich Dich tapfer und guten Gewissens verteidigen, auch gegen harsche Kritik hochkarätiger Fachleute. Es sind übrigens oft die gleichen, die unseren Afghanistan-Einsatz halbherzig nennen und ineffizient. Die Kanzlerin übt Bündnistreue, leider gibt es immer weniger gute Argumente vonseiten der obersten Einsatzleitung, erwidere ich dem amerikanischen Freund, der wenigstens seine eigene Ratlosigkeit eingesteht. Macht- und ratlos dürfen sich Politiker aber nie geben, also wird über das eigentliche Thema, über Sinn, Unsinn oder Ratio des Einsatzes geschwiegen. Bundespräsident Köhler wollte wohl dieses Schweigen brechen, als er offen die Sicherung der Wirtschaftswege ansprach: ein Tabubruch, der keine Debatte anstieß. Beleidigt zog er sich zurück. Hätte die Kanzlerin ihn zurückhalten sollen? Seinen Entschluss nicht einfach am Telefon zur Kenntnis nehmen, sondern mal schnell die Schuhe anziehen und von der Miele-Waschmaschine ins Palais rüberlaufen, um ihn umzustimmen, wie Heide Simonis es angeblich getan hätte? Zumindest hätte ein persönliches Gespräch vieles klären können, anstatt Köhlers Entschluss so stillos Knall auf Fall geschehen zu lassen. Alles wäre besser gewesen als diese versteinerten Posen beim Zapfenstreich mit Fackelzug zur Verabschiedung. Schmierentheater, Schießbudenkabinett sind Worte, die mir da spontan einfallen. Etwas stimmt nicht mit dem persönlichen Auftreten; nicht das Erscheinungsbild, sondern der Mensch, der da sichtbar wird – oder eben oft nicht mehr sichtbar und nicht mehr spürbar ist. Kaum ein paar Tage später wiederholte sich dieses unsägliche Zurschaustellen von Masken bei der Wahl des neuen Präsidenten. Ist denn da kein Mensch aus Fleisch und Blut im Saal? Niemand, der aufsteht und sagt, was jeder Zuschauer empfindet: Schluss mit der Parteipolitik! Wir haben drei Kandidaten, und jeder darf wählen, wen er will! Die Kanzlerin hat weder das gesagt noch für Einheit in den eigenen Reihen gesorgt. Man hatte das Gefühl, 1200 Leuten beim Verschwenden von Zeit zuzuschauen. Es blieben nur die schöne Nina Hoss und die altehrwürdige Hildegard Hamm-Brücher als ernsthafte Wahlfrauen.
Die Situation war festgefahren. Du, Angela, warst in einer Zwickmühle, aber als Regisseur sage ich, einen solchen Konflikt darf man nicht schwelen lassen. Man kann ihn nicht aussitzen, live in Großaufnahme, buchstäblich wie Sitzengebliebene auf diesen Schulbänken. Man muss ihn entkrampfen. Als Kanzlerin braucht man ja nicht auf Autorität zu pochen – die hat man qua Amt. Man kann also als Mensch auftreten, einfach als Bürger, und zu verstehen geben, wo Parteipolitik aufhört und wo es um die Würde geht. Nicht um die Würde eines Amtes, sondern ganz einfach um die des Landes, um die der Gesellschaft, in der wir leben und in der wir uns wohlfühlen (wollen). Diese Art der Entkrampfung wünsche ich mir von der Kanzlerin auch in einigen wichtigen Fragen, die über der Parteipolitik stehen sollten. Bildung zum Beispiel. Du hast sie zu Recht zur obersten Priorität erklärt. Es ist ein Skandal, dass ausgerechnet uns Deutschen Fachkräfte fehlen und dass fast alle Abiturienten aus Akademikerfamilien stammen. Stipendien, Bafög, Gymnasien, Volksschulen – alles wird zerredet, bis die Beteiligten unglaubwürdig sind.
Der Föderalismus macht’s unmöglich, der Kampf der Kommunen mit dem Bund, der Länder untereinander und aller gegen alle? Ein Strukturproblem, das auch durch ein Machtwort von ganz oben nicht gelöst werden kann? Weil niemand zu Gehorsam gezwungen ist? Ich fürchte, ja. Wenn unsere Verfassung dem Kanzler die Macht vorenthält, Prioritäten zu setzen und Reformen auch wirklich umzusetzen, dann muss er sich die Macht anders beschaffen. Eine gewagte Behauptung. Helmut Kohl hat es verstanden, durch die Pflege unzähliger persönlicher Beziehungen, durch Gefälligkeiten und Abhängigkeiten über alle Länder und Ämter verteilt sich so vieler Freunde, Verbündeter und Mitstreiter zu versichern – alle auf seine Person eingeschworen –, dass er die Macht im Lande, nicht durch Gesetz, aber de facto hatte und auch ausüben konnte. Auf diesem selbst gezimmerten Thron konnte er sich das Aussitzen mancher Konflikte leisten. Empfehle ich, „der alte Linke“ (dem Du nicht mal zugetraut hast, für Dich zu stimmen), Dir etwa diesen Weg?
Nein, ich würde mich eher am Fußball orientieren. Zwar können wir nicht mehr sagen: „Vom Fußball lernen heißt siegen lernen.“ Aber einiges stimmt doch noch.
Erstens: Teamgeist. Alle für einen, jeder für alle, keine Eitelkeiten, keine Sonderwege. Du brauchst Freunde in den eigenen Reihen. Bei meinen Lesereisen durch Deutschland habe ich deutlich gemerkt, wie wenige Du in manchen Ländern hast, zum Beispiel im dynamischen Baden-Württemberg. Also weniger Arbeit im Detail leisten, um stattdessen Zeit zu gewinnen für Freunde, die Dich unterstützen. Im Team anderen Raum zu lassen, wenn man an der Spitze steht, ist nicht einfach. Als Regisseur war ich auch jahrelang ein kleiner Alleinherrscher – mit zum Teil guten Ergebnissen. Als ich mit zunehmender Sicherheit anderen erlaubt habe mitzureden, bis jeder sich traute, Vorschläge zu machen, wurden die Filme besser. Erst als ich bereit war, Fehler zuzugeben, ist aus meinem Team eine Gemeinschaft geworden. Nobody is perfect, und wenn man das zugibt, die Seele offenlegt, gewinnt man. Gerade im kleinen Kreis bewundern Dich alle wegen Deiner Offenheit, Deinem Witz und Deiner Einfachheit. Betrachte einfach unser ganzes Land als einen kleinen Kreis (ist es ja auch!).
Zweitens: Mobilität. Jeder sollte auf jeder Position spielen können. Das ist der holländische Fußball total. Seitenwechsel sind erwünscht. Das hat sich in unserer Elf bewährt. Könnte es im Kabinett nicht auch Rochaden geben? Von einem Ministersessel zum anderen, rund um den Tisch, und warum nicht einmal inklusive des Sessels mit der erhöhten Lehne?
Drittens: Jugend. Talente früh erkennen und fördern. Was dem DFB richtig ist, sollte der Bildungspolitik teuer sein. Das ist das Einzige, woran ich überhaupt glaube. Um einen guten Film zu machen, sagt Billy Wilder, braucht man drei Dinge: ein gutes Drehbuch, ein gutes Drehbuch, ein gutes Drehbuch. Um ein gutes Land zu machen, braucht man: gute Schulen, gute Schulen, gute Schulen. Das sagst Du selbst. Es umzusetzen, das funktioniert im Föderalismus anscheinend nicht mit Macht, also muss es mit Überzeugung gelingen. Eine riesige Aufgabe, ich weiß. Aber eben auch für ein riesiges Amt.
Doch wem sage ich das? Ich könnte verstehen, wenn Du manchmal Lehre und Forschung vermisst. Hast Du nicht Sehnsucht nach exakter Wissenschaft angesichts all der Unwägbarkeiten in Ökonomie und Politik? Du kannst dir diesen Wunsch erfüllen: Mobilität, Rochade! Ich unterstelle mal, dass Du unter den besonderen Umständen der Wende in die Politik gegangen bist, um Gutes für Dein, für unser Land zu tun. Das hast Du trotz aller Kritik überragend erreicht, hast die Krisen um Finanzen und Euro mit Augenmaß bewältigt. Paul Krugman kann noch so sehr im Kreis seiner Kommentare springen, Du wirst recht behalten – hoffe ich. Die Arbeitslosenzahlen bessern sich, ebenso die Wirtschaft und sogar die Haushaltslage. Könntest Du beim nächsten Mal nicht einfach abwinken? Und sagen: Acht Jahre waren genug, jetzt kehre ich zurück in meinen eigentlichen Beruf. Das hätte Stil, zumal Du ja nicht als Beraterin in die Wirtschaft gehen würdest, um Dir Deine politischen Beziehungen versilbern zu lassen…
Sollte nach ein paar Jahren doch wieder Not am Mann, pardon, an der Frau sein, könntest du zurückkommen wie einst Charles de Gaulle aus Colombey-les-Deux-Églises.
Im Augenblick geht das natürlich nicht. Zu viel ist noch zu tun, allein schon bei der Bildung. Auch ist die Wahrnehmung von außen zu schlecht, um sich zu verabschieden. Zwar stehen Sarkozy und Obama zurzeit viel schlechter da, aber es geht nicht um Sitzungen, um Kosmetik oder um PR. Das Publikum verfügt über feine Antennen und würde gleich erkennen, um was es geht: um bloßes Polieren am Erscheinungsbild. Das lässt sich aber nur von innen verbessern, durch eine mutigere Politik. Und wenn ich das jemandem zutraue, verehrte Frau Bundeskanzlerin, sind Sie es! Geschichte wird nicht gemacht von großen Männern (Napoleon, Mao, Churchill, Castro), sie ist das Ergebnis von Evolution. Viele kleine Faktoren führen zu großen, langfristigen, manchmal sprunghaften Entwicklungen. Dir, Angela, traue ich es zu, eine solche Entwicklung in unserer Gesellschaft anzustoßen – nicht mit den politischen Schachzügen und Intrigen der „großen Männer“, sondern mit dem Charme und der Aufrichtigkeit der Frau, die vor Jahren aufgebrochen ist in die Politik, mit beharrlichen kleinen Schritten in immer dieselbe Richtung, unter Einbeziehung des ganzen Teams, mit Herz und Verstand, nicht mit Macht und Befehl.
Vor der Wahl schrieb ich: Sie weiß, dass sie einen Pakt, einen Freundschaftspakt mit uns, den Deutschen hat, die spüren, dass „sie eine von uns ist“. Das politische Geschäft widert uns oft an, weil es gnadenlos verhärtet, verbraucht, entmenschlicht. Wir haben kein Mitleid mit denen, die sich zu seinen Opfern machen lassen. Wir wollen, dass sie sich gegen den Druck wehren. Und dass Du in obigem Sinne „eine von uns“ bleibst.
Dein Volker
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