() Den Reichstag überschattet ein medialer Strahl
RTL vor SPD
Auf BILD, BamS und Glotze kame es an, sagte der Bundeskanzler einmal. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sehen es genauso – sie haben keine hohe Meinung von ihrer eigenen Tätigkeit. Das ergibt eine repräsentative Umfrage der Universität Heidelberg. Den meisten Einfluss in Deutschland hätten nicht sie, sondern die Medien
Ungewollt machte sich Friedrich Merz zum Kronzeugen der Misere. Sabine Christiansen, so lobte er, bestimme mit ihrer Talkshow mehr die Themen der Republik als der Deutsche Bundestag. Volksvertreter an der Leine des Polit- Entertainments. Nun bestätigt auch die Mehrheit der Parlamentarier in einer repräsentativen Umfrage der Universität Heidelberg zum Elite-Bewusststein der Abgeordneten, dass sie den Medien einen höheren Stellenwert einräumt als der Politik. Ob große Lettern oder ziselierte Analysen, ob 30-Sekunden-Nachrichten oder Dokumentationen – die veröffentlichte Meinung wird von den meisten Hauptdarstellern der repräsentativen Demokratie als bedeutendste Kraft in Deutschland angesehen. Sie selbst ordnen sich erst auf Rang zwei ein, knapp vor der Wirtschaft.
DIE STUDIE offenbart die innere Zerrissenheit der Abgeordneten ohne Sonderfunktion, die sich im Wahlkreis durchsetzen oder auf der Landesliste nach vorn kämpfen. Politiker, die im heimatlichen Sprengel die Spannbreite von Ehrfurcht bis Empörung erfahren und dabei immer als Hauptakteure der Politik gelten. Und die in der Hauptstadt sehr schnell erkennen müssen, dass sie wenig ausrichten können.
So wundert zunächst nicht, dass die Heidelberger Forschungsgruppe der Fachrichtung „Politische Soziologie“ kaum Selbstzweifel findet, wenn sie direkt nach dem Stellenwert des politischen Spitzenpersonals fragt: Egal, ob schon mehrere Legislaturperioden im Hohen Haus oder gerade erst dabei, 83 Prozent der Abgeordneten betrachten sich als politische Elite. Zu hundert Prozent ausgeprägt ist dieses Bewusstsein bei der CSU. Es folgen FDP und CDU mit 92 beziehungsweise 91 Prozent. Nur Sozialdemokraten und Grüne haben mit 69 und 56 Prozent ein geringer ausgebildetes Selbstwertgefühl. Hier dürfte sich die geballte Kritik der vergangenen Monate an der rot-grünen Regierungspolitik niedergeschlagen haben. Mit Blick auf die Durchsetzungsfähigkeit der Parlamentarier zeigen sich allerdings Spuren selbstkritischer Analyse. „Wie groß sehen Sie Ihren Einfluss auf die Entwicklung des Wohlstands in der Gesellschaft?“, wurden sie gefragt. 60 Prozent gaben an, dass sie ihre Gestaltungskraft im Vergleich zur Wirtschaft als wenig wirkungsvoll erachten. Ein Gefühl großer Abhängigkeit von ökonomischen Zwängen schwingt mit. Mehr noch: Nur ein Prozent der Volksvertreter gibt der Arbeit des Hohen Hauses das Prädikat „sehr gut“. Etwas mehr als die Hälfte (55 Prozent) nennt sie gut. Doch ein großer Teil von immerhin 44 Prozent scheut sich nicht – „gewählt ist gewählt“ – die Tätigkeit des Bundestages als mäßig bis schlecht zu bezeichnen. Das Ergebnis stimmt nachdenklich. Haben wir zu viele Parlamentarier, sodass der einzelne zu wenig zählt? Werden unsere Volksvertreter zu Recht ganz überwiegend als Hinterbänkler eingestuft, sind sie gar nicht um Stimme und Einfluss bemüht?
DIE ANTWORTEN auf die Frage, wer im Hohen Haus reüssiert, sind nicht dazu angetan, Zweifel auszuräumen: Stoiber, der Aktenfresser, Schröder, der Medienkanzler. Detailversessenheit contra Eloquenz. Die Parlamentarier haben das gern bemühte Gegensatzpaar aus dem Bundestagswahlkampf 2002 offenbar verinnerlicht. 43 Prozent messen dem Politiker den größten Stellenwert zu, der sich im Umgang mit Medien versiert zeigt und über ein ausgeprägtes Kommunikationsvermögen verfügt. Den Fachpolitiker dagegen siedeln nur sieben Prozent ganz vorn in der politischen Rangordnung an. Eine vergleichbare Fehlentwicklung zeigt die Studie übrigens mit Blick auf den Beamtenapparat. Die Verwaltung nimmt in der Elite-Rangfolge der Parlamentarier den letzten von neun Plätzen ein. Dabei finden sich hier vielfach enormes Fachwissen und langjährige Erfahrung, die nicht für hohe Gutachter-Honorare eingekauft werden müssen.
Degeneriert die politische Klasse also tatsächlich zu einer Versammlung von Polit-Entertainern, die sich der vermeintlichen Elite des Landes, sprich den Medien, andient?
DAS POLITIKER-SELBSTBILD in der Heidelberger Studie wird das Ansehen der Politik jedenfalls nicht befördern, denn Sachverstand erwarten die Bürger nach wie vor – trotz mancher Desillusionierung. Und gefragt nach den Fähigkeiten, über die ein Politiker verfügen muss, nennen die Parlamentarier, die sich an der Studie beteiligten, sogar selbst durchgängig das Fachwissen. Dass sie dennoch dem überwiegend mit Sachfragen befassten Abgeordneten wenig Durchsetzungskraft attestieren, mag auf eine im Parlament zunehmend spürbare Unzufriedenheit zurückgehen: Eine wachsende Zahl von Volksvertretern klagt über die mangelnde Beteiligung an Entscheidungsprozessen und die Dominanz von Kommissionen und Kungelrunden.
Aufhalten ließe sich diese Entwicklung nur durch hartnäckiges Einfordern intensiver Diskussionen in den Fraktionen des Hohen Hauses. Nicht allein der Druck der Straße, wie bei der Agenda 2010, oder der Medien, wie bei der Rechtschreibreform, würde das Handeln der Regierung beziehungsweise die Positionierung der Opposition beeinflussen. Doch wer die Durchsetzungsfähigkeit von Kompetenz in den eigenen Reihen für unterentwickelt hält, worauf die Heidelberger Studie hindeutet, darf sich nicht wundern, wenn Hartz und Herzog den Weg markieren.
Unbequemes Verhalten setzt überdies Unabhängigkeit voraus – mental wie finanziell. Doch hier sind allzu große Hoffnungen unangebracht. „Von der Politik lebt, wer danach strebt, daraus eine dauernde Einkommensquelle zu machen, für die Politik der, bei dem dies nicht der Fall ist.“ Diese Maxime von Max Weber zugrunde gelegt, sind die Ideale aus der deutschen Politik verschwunden. 74 Prozent der Volksvertreter betrachten die Politik als ihren Beruf.
Dabei ist das Bewusstsein, Berufspolitiker zu sein, bei denen am stärksten ausgeprägt, die ursprünglich gegen das politische Establishment angetreten sind. So stehen die Grünen auch auf dem ersten Rang, wenn es um die Feststellung geht, dass die Wahl in den Bundestag einen erheblichen Karrieresprung ausmacht. Dagegen sehen CSU- und FDP-Politiker das Mandat als weitaus weniger förderlich für den beruflichen Werdegang an.
Insgesamt aber geben 78 Prozent der Volksvertreter an, der Sitz im Parlament beschere ihnen ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Voll etabliert stehen die Grünen bei dieser Einschätzung abermals auf dem vordersten Rang. Weitgehend einig sind sich die Bundespolitiker aller Parteien darin, dass sie ihr Mandat einem Regierungsamt in einer Landesregierung allemal vorziehen. Aber dieses Resultat kann auch Ergebnis der Autosuggestion all derer sein, die bislang nicht gefragt wurden, ob sie in eine Landesregierung wechseln wollen.
Die Anhänglichkeit an das MdB hinter dem Namen begründen die Abgeordneten jedoch nicht mit der Genugtuung über ihre finanzielle Vergütung. Weniger als die Hälfte ist damit zufrieden. Etwa ein Drittel hält die monatlichen Diäten in Höhe von 7009 Euro für zu niedrig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass jeder Abgeordnete zusätzlich pro Monat eine steuerfreie Kostenpauschale in Höhe von 3551 Euro erhält und Funktionsträger darüber hinaus mit Zulagen bedacht werden.
IMMERHIN, Müntefering sei Dank, zeigt sich die Mehrheit der Parlamentarier nach Jahren der Gleichmacherei nun überzeugt davon, dass Eliten für das Funktionieren einer Gesellschaft unverzichtbar sind. 60 Prozent bejahen auch die Frage, ob Eliten das Werte- und Normensystem der Gesellschaft maßgeblich prägen. Doch gehören unsere Politiker dazu? Für Werner Bruns, Projektleiter der Studie, eignen sich die Qualifikationen des modernen Volksvertreters nicht automatisch zur Führung von Menschen, zur Ausarbeitung langfristiger Strategien oder zum Entwurf zukunftsweisender Leitbilder. Allein das Erfüllen gesellschaftlicher Erwartungen in additiver Politik ist eben kein Ausweis eines guten Politikers.
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