() NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann setzt auf Konsens statt Disput.
Rot-Grün in NRW – Politik für Wutbürger
Noch nie war Deutschland strukturkonservativer als heute. Das stellt die Politik vor neue Herausforderungen. Hannelore Kraft zeigt in NRW, wie man mit den Wutbürgern regiert. Ihre Politik könnte das Vorbild für andere Bundesländer sein, vor allem für Baden-Württembergs künftigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.
Seit vergangenem Sommer hat Nordrhein-Westfalen eine neue Landesregierung. Ohne eigene Mehrheit bestimmen seitdem SPD und Grüne, zumeist geduldet von der Linkspartei, die Politik im bevölkerungsreichsten Bundesland. Geschehen ist seitdem auf den ersten Blick recht wenig. Rot-grün startete in Nordrhein-Westfalen (NRW) nicht mit reformatorischen Eifer. Von den im Wahlkampf angekündigten Projekten, ist bislang nur eines umgesetzt worden und zwar das in der Bevölkerung am wenigsten umstrittene: Die von der Regierung Rüttgers eingeführten Studiengebühren wurden wieder abgeschafft.
Bei den Streitthemen, von denen ist in NRW viele gibt, setzt Rot-Grün auf Dialog. Die von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) geführte Landesregierung versucht einen Politikstil zu prägen, der für Länder wir Baden Württemberg als Modell taugt. Denn dort warten auf den wahrscheinlich künftigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann schwere Aufgaben: Wie soll er den Konflikt um Stuttgart 21 lösen? Wie den Landeshaushalt im Lot halten und gleichzeitig mit EnBW aus der Kernenergie aussteigen?
In dem er Politik eher als Moderationsaufgabe denn als Gestaltungshoheit versteht. Denn genau dies geschieht in NRW unter Rot-Grün:
Das Versprechen von Rot-Grün auf eine Reform des Bildungsbereichs, die Einführung der Gemeinschaftsschule und das gemeinsame Lernen bis zur sechsten Klasse, ist purer Sprengstoff. Ob die Einführung des Abiturs nach acht Jahren, längeres gemeinsames Lernen, die Abschaffung der Hauptschule – seit jeher riskieren Regierungen, die Hand an das Bildungssystem legen, den Aufstand der Eltern. Rot-Grün überlässt es den Kommunen, in enger Absprache mit den Eltern, die Gemeinschaftsschule einzuführen. Auch wenn ein Gericht sich jetzt gegen die Einführung einer Gemeinschaftsschule gewandt hat: Ein neuer Schulkampf zeichnet sich in NRW bislang nicht ab.
Beispiele für diesen neuen Politikstil gibt es zuhauf:
• SPD und Grüne sind sich uneinig darüber, wie mit dem Kohlekraftwerk Datteln IV umgegangen werden soll. 1,2 Milliarden Euro wurden von Eon bereits verbaut, das Oberverwaltungsgericht Münster stoppte den Bau. Die Landesregierung will das Problem nun auf die lange Bank schieben. Immer neue Gutachten sollen die Frage des Kraftwerks Datteln IV von einer politischen zu einer rechtlichen Frage werden lassen.
• Der Chemiekonzern Bayer will eine CO-Pipeline entlang des Rheins errichten. Bürgerinitiativen sind dagegen. Nach einem von der Bezirksregierung erlassenen Baustopp entscheidet ein Gericht über das weitere Verfahren.
• In NRW sollen Gasvorkommen durch umstrittene Fracking-Verfahren abgebaut werden. Dabei wird das Gas mit hohem Druck aus Gesteinsschichten herausgepresst. Bürgerinitiativen im ganzen Land sorgen sich um die Auswirkungen auf das Grundwasser. Das Land will nun, dass sich die Gasunternehmen mit den Bürgern und kritischen Experten zusammensetzen. Zugleich will Rot-Grün sich für eine Verschärfung des Bergrechts einsetzen, unter dass die Erdgasförderung fällt. Künftig sollen härtere Umweltprüfungen vorgeschrieben sein.
• NRW hat ein liberales Raucherschutzgesetz. Vor allem in kleinen Kneipen dürfen die Wirte selbst entscheiden, ob die Gäste rauchen dürfen oder nicht. Die von den Grünen geforderte radikale Lösung nach bayerischem Vorbild wird es nicht geben – die Rot-Grün sucht in dieser Frage den Konsens aller Parteien im Landtag. Zu rechnen ist mit moderaten Veränderungen.
• Traditionelle Regierungspolitik hätte bei jedem dieser Themen versucht, eine schnelle Lösung zu finden, rechtzeitig vor den nächsten Wahlen Tatsachen zu schaffen und diese dann zügig umgesetzt. Dass Rot-Grün in NRW dies nicht tut, hat nicht nur etwas mit dem Status als Minderheitsregierung zu tun. Für jedes einzelne Projekt wäre eine Mehrheit im Landtag zu finden.
Kraft und Löhrmann haben vielmehr erkannt, dass in Zeiten umfangreicher Klagemöglichkeiten und einer hohen Grunderregung innerhalb der Bevölkerung parlamentarische Mehrheiten ebenso wenig ausreichen wie klare gesetzliche Grundlagen. Wer Projekte nicht nur ankündigen, sondern auch umsetzen will, braucht die Zustimmung der Bevölkerung und die muss unabhängig von Wahlterminen immer wieder neu errungen werden.
Die Menschen sollen mitgenommen werden. Rot-Grün in NRW hat sich damit nur scheinbar für einen langsamen Weg entschieden. Der Schulkampf in Hamburg oder die Konflikte um den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs haben schließlich gezeigt, dass auch mit stabilen Mehrheiten nicht gegen den Willen der Bürger regiert werden kann. Die mehr als dreißig Jahre lange Bürgerinitiativtradition in Deutschland hat dafür gesorgt, das in allen Teilen der Bevölkerung die Vertretung der eigenen Interessen gegenüber der Politik akzeptiert ist; selbst dann, wenn diese Interessen im fundamentalen Widerspruch zum Allgemeinwohl stehen.
Rot-Grün in NRW stellt daher jedes politische Vorhaben zur Diskussion. Selbst hoheitliche Aufgaben, wie der Eingriff in die Haushalte überschuldeter Kommunen durch die Aufsichtsbehörden, sollen im Konsens gelöst werden. Kraft und Löhrmann haben in NRW ein gigantisches Konfliktvermeidungsprogramm gestartet, sie sind Moderatoren und keine Regierenden.
In der alten Macher-Generation, zu den Zeiten der Schröders, Clements und Stoibers wäre ein solches Politikverständnis undenkbar gewesen. Aber immer selbstbewusstere Bürger und immer weitreichender Klagemöglichkeiten haben diesen Politikern schon vor Jahren deutlich ihre Grenzen aufgezeigt. Von Clements großen Projekten in NRW wie dem Metrorapid oder der Trickfilm-Produktion in Oberhausen ist kaum eines verwirklicht worden oder sie sind grandios gescheitert. Auch Stoiber konnte nie im Münchener Hauptbahnhof in den Transrapid steigen. Die von Schröder im Hauruck-Verfahren durchgesetzte Agenda 2010 führte De-facto zur Spaltung der SPD und kostete ihn die Kanzlerschaft.
Wollen Kraft und Löhrmann in NRW und will vor allem Kretschmann in Baden-Württemberg dauerhaft erfolgreich sein, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als seine Politik als einen beständigen Kommunikationsprozess mit der Bevölkerung zu entwickeln. Als erster Bürger unter gleichen müsste er seine Ideen einbringen. Gemessen wird sein Erfolg dann nicht daran, ob er seine politischen Vorstellungen durchsetzen konnte, sondern ob er die politischen Konflikte effizient moderiert hat.
Kraft und Löhrmann scheinen die ersten Politiker zu sein, die sich mit dieser neuen Moderatorenrolle weitgehend zufrieden geben. Viele andere werden ihnen folgen. Zumindest in ruhigen Zeiten scheinen die Moderatoren und nicht die Macher gefragt zu sein.
Doch dieser Politikstil hat seine Grenzen. Vor allem dann, wenn es darauf ankommt, in Krisensituationen schnell zu reagieren, wird es nicht mehr reichen, Politik zu moderieren und auf Konsense zu setzen. Wer den Menschen ausschließlich ein solches Bild vermittelt, macht ihnen etwas vor. Zudem können Politiker nicht jedem Konflikt aus dem Weg gehen. Von ihnen wird auch erwartet Konflikte auszutragen, zu Überzeugungen zu stehen, für Lösungen zu streiten und die Konsequenzen zu tragen.
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