- Wenn Fotos zu Symbolen werden
Kolumne: Grauzone. Kommenden Donnerstag wäre der große Kulturtheoretiker Roland Barthes 100 Jahre alt geworden. Als Erster untersuchte Barthes umfassend die Botschaft von Fotos und die Ideologie hinter alltäglichen Dingen. Was er wohl zu Merkels Selfie gesagt hätte?
Was ein seltsames Paar. Was ein eigenartiges Foto: Sie trägt einen türkisfarbenen Blazer ohne Revers, er ein kariertes Hemd und eine blaue Jacke. Sein linker Arm liegt locker um ihre Schulter, in der Rechten hält er ein Handy. Er lächelt nett, sie schmunzelt freundlich, dabei etwas verkniffen. Ihren rechten Arm hat sie, wie in einer verlegenen Abwehrhaltung, zwischen ihre beiden Körper gequetscht. Gleich wird er ein Selfie machen. Der BKA-Beamte im Hintergrund schaut angespannt.
Es war der 10. September als diese Aufnahme entstand. Angela Merkel, die Dame auf besagtem Foto, besuchte eine Erstaufnahmeeinrichtung der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Spandau. Es war ein sonniger Tag. Die Menschen drängten sich um die Kanzlerin und zückten ihre Mobiltelefone. Dann nahm sie jener anonyme Flüchtling in den Arm, um ein Selbstportrait mit der Kanzlerin zu knipsen. Das Foto, das der dpa-Fotograf Bernd von Jutrczenka von dieser Szene machte, wird einst vielleicht in den Geschichtsbüchern landen.
Denn Fotos sind nicht einfach nur ausschnitthafte Abbildungen der Realität. Sie sind weitaus mehr. Sie sind Zeichen, und als solche transportieren sie Botschaften. Diese Botschaften sind mehrdeutig, widersprechen sich mitunter und sind alles andere als kohärent. Und manchmal werden Fotos so zu Symbolen ihrer Zeit.
Hinter der Fassade des Offensichtlichen
Das erste Mal umfassend untersucht hat diese Logik der Bilder der Zeichentheoretiker Roland Barthes. Wie kaum ein anderer Wissenschaftler hat er versucht, hinter die Fassade des Offensichtlichen zu schauen und zu erklären, wie die verdeckte Bedeutung hinter dem scheinbar Banalen funktioniert.
Berühmt geworden ist Barthes vor allem durch ein Buch: die „Mythen des Alltags“, erschienen 1957. Darin definiert Barthes den „Mythos“ als eine Botschaft, ein Bündel von Aussagen, Meinungen und Mitteilungen. Man könnte auch sagen: eine Ideologie. Dementsprechend untersucht Barthes in den „Mythen des Alltags“ die Ideologie hinter den alltäglichen Dingen – sei es die damals neue Citroën DS, das Catchen, Striptease („ein paar Atome Erotik“), den damaligen Hype um Marsmenschen oder das Beefsteak mit Pommes Frites.
Gegenstände – Autos, Kleidung, Nahrungsmittel – sind nicht einfach nur Gegenstände. Sie haben immer auch eine Bedeutung. Kleidung etwa ist nicht einfach nur Kleidung, sie steht für etwas. Noch komplizierter ist es mit Fotos. Sie bilden nicht nur etwas ab, sondern schaffen als Abbildung eine zusätzliche Bedeutungsebene. An diesem Punkt hakt Barthes ein.
Die Betrachtungsebenen
Bilder, so Barthes, haben zunächst eine buchstäbliche Botschaft. Im Falle des oben beschriebenen Fotos: Ein unbekannter Mann knipst ein Selfie mit Kanzlerin Merkel. Um diese Botschaft zu verstehen, brauchen wir ein gewisses Alltagswissen. Etwa darüber, wer Frau Merkel ist, was ein Handy und dass man mit ihm fotografieren kann.
Weitaus komplizierter ist die zweite, die symbolische Ebene. Sie bekommt ihre eigentliche Bedeutung durch eine sprachliche Information, die dem Bild selbst nicht zu entnehmen ist: Die Kanzlerin besucht hier eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge – und nicht etwa einen CDU-Ortsverein.
Dieses Wissen erschließt die eigentliche Botschaft. Und die wiederum ergibt sich aus dem Zusammenspiel mehrerer Betrachtungsebenen: Da ist zunächst die abgebildete Szene selbst. Sie vermittelt die Zugänglichkeit, Offenheit und Menschlichkeit.
Die Schnappschuss-Ästhetik des Fotos kommuniziert auf einer zweiten Betrachtungsebene zugleich Merkels Spontaneität, Unprätentiosität und Authentizität, die durch die leichte Reserviertheit der Kanzlerin eher noch unterstrichen wird.
Eine dritte Bedeutungsebene bekommt das Foto dadurch, dass es aus vielen anderen Fotos des Tages ausgewählt wurde. Ab diesem Punkt hat das Foto eine symbolische Funktion. Die Frau mit dem türkisfarbenen Jackett wird zu Deutschland, das hilfsbereit, engagiert und irritiert zugleich ist, der anonyme Handybesitzer im Auge des Betrachters zum Sinnbild der dankbaren, freundlichen aber auch etwas vereinnahmenden Flüchtlinge.
Symbolische Assoziationen
Diese symbolische Deutung ermöglicht schließlich – viertens – neue Kontextualisierungen, die es allegorisch aufladen: Seitens der Bundesregierung etwa als Zeichen für Deutschlands Offenheit, bei einer Pegida-Demonstration als Sinnbild des angeblichen Ausverkaufs deutscher Interessen durch die Politik.
Die Bedeutung eines Fotos ist das Ergebnis einer kaum überschaubaren Zahl symbolischer Assoziationen und Verknüpfungen. Das macht ihre Faszination aus. Roland Barthes hat diese Rhetorik der Bilder erstmals systematisch untersucht. Er hat uns gelehrt, genauer hinzuschauen. Und wie kaum ein anderer hat er dazu beigetragen, unsere Alltagskultur zu verstehen – und damit uns selbst. Am kommenden Donnerstag wäre der große Kulturtheoretiker 100 Jahre alt geworden.
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