- Tschüss, Piraten!
Organisationschaos, thematische Inkompetenz, Mitglieder-Mobbing: Viele engagierte Piraten haben nicht die politische Alternative gefunden, von der sie immer geträumt haben. Die ersten Mitglieder kehren ihrer Partei entnervt den Rücken. Cicero Online sprach mit ihnen
In William Goldings „Herr der Fliegen“ stirbt die Unschuld auf einer Insel. In dem Roman sind die Kinder nach einem Flugzeugabsturz dort gestrandet. Doch schon bald trennen sie sich in zwei Gruppen. Die „Jäger“ wollen mit den „Hüttenbauern“ nichts mehr zu tun haben, es kommt zum Streit. Erst mobben sie, dann morden sie. Aus der Insel der Erlösung wird eine Insel des Grauens.
„Genau das passiert zur Zeit bei den Piraten. Und zwar bis in die Details.“ Der Gießener Kreistagsabgeordnete der Piraten, Matthias Tampe-Haverkock, der sich hauptberuflich um schwer erziehbare Jugendliche kümmert, hat sich für die Beschreibung seiner Partei eine drastische Allegorie ausgesucht. Auf seinem Blog schreibt er, dass die Piraten zunächst noch auf „der Insel der Glückseligen“ seien, „im Besitz der neuen Denke“. Doch schließlich, so prophezeit der 48-Jährige, trete die anerzogene Friedfertigkeit „hinter ein rohes Faustrecht zurück“.
Tampe-Haverkock wollte warnen, aufrütteln, zur Diskussion anregen. Der Kreispolitiker sagt, er habe sich bereits mit dem Gedanken eines Parteiaustritts getragen. Wenngleich seine Goldings-Allegorie bewusst überzeichnet, so beschreibt sie vielleicht doch, was manche dachten, bevor sie austraten.
Keine Frage: Die Piraten wachsen weiterhin, ungebremst. Und doch gibt es unter den 34.000 Mitgliedern – auch den nicht-zahlenden – solche, die sich von der Partei wieder abgewandt haben.
[gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]
Von den 16 Landesverbänden, die Cicero Online anfragte, teilten Brandenburg, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein die Zahlen ihrer Ein- und Austritte mit: 5.375 Piraten kamen in diesen sechs Ländern seit Jahresbeginn neu hinzu, 324 gingen – darunter wurden auch Todesfälle gezählt. Am zufriedensten waren die niedersächsischen Mitglieder, wo das Verhältnis von Ein- zu Austritten hundert zu zwei betrug, am unzufriedensten in Hamburg und Hessen mit je hundert zu zehn.
Die Ausstiegswilligen sitzen häufig an der Basis, sind wenig prominent, und haben sich oft wund gearbeitet.
Und sie teilen sich in vier Gruppen.
Da sind erstens jene, die bei den Piraten ein „strukturelles Problem in der Arbeitsweise“ sehen. So nennt es der Marburger Kommunalpolitiker Sascha Klee. Thesen, Argumente, Polemik und persönliche Angriffe würden bei den hessischen Piraten „zu einem üblen Brei vermengt“, schrieb er auf seiner Webseite, als er Ende Juli austrat.
Zugleich gebe es eine falsche Vorstellung von Gleichheit, erzählt der 42-jährige Kaufmann Cicero Online. „Einmal hatten wir einen Querschießer auf der hessischen Mailingliste.“ Der Rabauke pöbelte, beleidigte, hielt alle von der Arbeit ab. „Aber anstatt ihn von der Diskussion auszuschließen, stellte man zwei Tage lang die Liste ab.“ Ein ganzer Landesverband gelähmt, weil immer jeder mitreden soll. Klee sagt, es sei mit den Piraten schwer, Entscheidungen zu treffen, nach hitzigen Debatten auch mal zu einem Konsens zu kommen. Das ist die Funktion von Parteien: Sie sollen gesellschaftliche Meinungsfindung vorstrukturieren, Lösungen anbieten.
Seite 2: „Vom Regen in die Traufe“ gekommen
Die Marburger Piraten schäumten, als sie von Klees Austritt erfuhren. Es habe einen monatelangen Streit gegeben, erklärte der Kreisverband. Und forderte, dass der Politiker auch sein Mandat niederlege: Es gebe „keine Rechtfertigung dafür, der Partei den Rücken zu kehren und das Amt einfach zu behalten“.
Klee sieht das anders. Die Kritik an ihm erreiche „Orwell’sche Ausmaße“. Der Stadtverordnete arbeitet rund 30 Stunden die Woche ehrenamtlich, dafür erhält er eine Aufwandsentschädigung von 260 Euro. „Man muss mal eine Zeit lang bei den Piraten gewesen sein, dann weiß man, dass das keine Robin-Hood-Partei ist. Die Wirklichkeit ist profaner“, sagt Klee heute.
Der bayerische Ex-Pirat Mike Anacker sagt, mit seinem Wechsel von der CSU zu den Piraten nach einer längeren politischen Pause sei er „vom Regen in die Traufe“ gekommen. Der 55-Jährige war bis August bei den Piraten in Erding. Als Pressesprecher kümmerte er sich unter anderem um verkehrspolitische Themen, wie Ausbau des Nahverkehrs und des Münchner Flughafens. Doch statt kommunalem Engagement begegneten Anacker „abstruse Vorschläge“, statt eigener Positionen gab es Copy-and-Paste. „Die haben anderswo ihre Positionspapiere abgeschrieben. Das hat mich wahnsinnig aufgeregt.“
Anacker sagt, eine neue Partei müsse zunächst vor allem mit guten Vorschlägen überzeugen. Mit thematischer Arbeit. Die Organisationsstruktur mit ihren Bundes- und Landesvorständen, Crews und Arbeitsgruppen sei da nachrangig, und auch das wichtigste Werkzeug der piratischen Basisdemokratie – die Onlineplattform Liquid Democracy – hält der Erdinger für überbewertet. Er vergleicht das mit dem Mythos Microsoft: „Bill Gates brauchte auch nicht mehr als eine Garage, um ein Produkt zu entwickeln, das bei den Bürgern weltweit ankommt. Warum leisten sich die Piraten dann einen solchen riesigen Wasserkopf, zumal dessen ‚Benutzeroberfläche‘ für Nicht-Informatiker nur schwer zu überschauen ist ?“
Anacker gehört zu der zweiten Sorte, die aus fachlichen und inhaltlichen Gründen ausgestiegen sind. Ihnen mangelte es schlicht an Kompetenz; ihre Hoffnung, in der Piratenpartei Themen umzusetzen, erfüllte sich nicht.
Auch André Braselmann wollte für eine gute Sache kämpfen. In Ostfriesland geht es um den Erhalt der Kreiskrankenhäuser. Dort sollen wichtige chirurgische Abteilungen geschlossen werden; für ältere und weniger mobile Menschen ein großes Problem. „Aber hier diskutiert man lieber, wie die Homepage aussehen soll“, beschwert sich der 47-jährige Familienvater. „Die Piraten klagen über die Ungerechtigkeiten in der Welt, doch der lokale Bezug fehlt völlig.“ In Niedersachsen gebe es daher viele Unzufriedene.
Braselmann, selbst Informatiker, lässt nicht einmal an der überregionalen Arbeit der Partei ein gutes Haar. Hauptberuflich beschäftigt er sich mit Datensicherheit, eigentlich ein Kernthema der Piraten. Doch in der bundesweiten AG Datenschutz säßen „viele Paranoiker“, betont Braselmann. „Fachlich ist da nichts drin“. Heute bezeichnet er sein Eintrittsdatum – den 11. September 2006 – als seinen „persönlichen 11. September“. 2012 trat er am selben Datum wieder aus.
Während dieser sechs Jahre haben sich die Piraten aber inhaltlich sehr stark verändert. Ging es bei der Gründung der Partei noch um reine Internetthemen – Netzneutralität, Urheberrecht und freies WLAN – so hat sie sich mittlerweile um weltanschauliche Programmpunkte erweitert. Der wohl umstrittenste war das bedingungslose Grundeinkommen, das der Bundesparteitag in Offenbach 2011 beschlossen hat. Die programmatische Neuausrichtung hat viele der frühesten Mitglieder verschreckt – Grund drei für die meisten Austritte.
Seite 3: Ruppiger Umgang und Mobbing
Steffen Thomas, der in der DDR geboren ist, hält das Grundeinkommen für eine „Gesellschaftsutopie“, gar für eine „kommunistische Träumerei“. Der Chemiker, von 2009 bis 2010 im brandenburgischen Vorstand, lehnte auch die Lockerung des Inzestverbots ab – und erklärte seinen Austritt. Mit ihm gingen „auf einen Schlag etwa 10 Leute, allein alle Gründungsmitglieder des Landesverbandes“, wie sich der damalige Landeschef Axel Mehldau heute erinnert. Im Internet wurde schon über das Ende der Partei in Brandenburg spekuliert. Mehldau sagt, schon vor anderthalb Jahren hätten sich die Piraten „zu sehr den Etablierten angeglichen“.
Der Streit zwischen denjenigen, die für die „Menschenrechte im Internet“ kämpfen und denjenigen, die eine programmatische Ausdehnung – auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 – anstreben, tobt indes weiter. Im Februar eröffneten einige der Parteigründer die „Gruppe 42“. Ein Pamphlet für mehr Netzthemen, das auch Unzufriedene auffangen sollte. Intern war die Gruppe jedoch umstritten, der Ton manchmal schrill.
Auch davon berichten die Ausgestiegenen immer wieder. Der raue bis ruppige Umgang innerhalb der Partei ist daher auch die Nummer vier der häufigsten Ausstiegsgründe.
[gallery:20 Gründe, Pirat zu werden]
Tibor Maxam spricht sogar von „Mobbing“. Der Leiter einer Stadtbibliothek in Springe bei Hannover war von den Transparenz- und Open-Source-Ideen der Piraten zunächst begeistert. Dreieinhalb Jahre engagierte sich der ehemalige CDU-Mann. Im vergangenen Jahr hörte er dann immer häufiger, er sei zu konservativ. „Die Partei war nie rechts, aber jetzt ist sie links der Mitte.“
Maxam bewarb sich dennoch – um einen regionalen Vorstandsposten, als Direktkandidat für die Niedersachsen-Wahl. Vergebens. „Da waren richtige Heckenschützen unterwegs“, sagt der 36-Jährige, „Leute, die mich anriefen und sagten, tritt doch endlich aus“. Im Juni war es dann so weit: Maxam sagte „Tschüss“.
Ähnliches erlebte auch der frühere Berliner Landeschef Hartmut Semken. Allerdings – und das unterscheidet seinen Fall von den anderen – nicht ganz ohne eigenes Zutun: Denn Semken hatte erst für einen toleranteren Umgang mit Rechtsextremen in den eigenen Reihen plädiert und dann im Landesvorstand geflunkert. Er verlor sofort sein Amt.
Der Mann, der einst den Shitstorm als Teil der Piraten-Folklore bezeichnet hatte, geriet nun selbst in einen solch dreckigen Empörungssturm. „Es war die Hölle.“ Semken überlegte danach lange, ob er austreten sollte, entschied sich aber dagegen. Heute sagt er: „Piraten können sich nicht nur empören, sie können auch verzeihen.“
Im Erzgebirge scheint man davon noch weit entfernt zu sein. Der Kapitän einer piratigen „Crew“ schrieb Cicero Online, man sei „leider in den Focus zerstörerischer Piratengruppen gekommen“. Man habe bereits „Mannschaftsteile mit er aktiven Bekämpfung dieser Gruppierungen“ freigestellt. Es klingt roh, was da geschieht. Fast wie Faustrecht.
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