- Peter Sloterdijk: „Das Ende des nuklearen Feuers“
Was lernt die Menschheit aus der verheerenden Reaktorkatastrophe in Japan? Deutschlands bekanntester Philosoph sieht die dramatischen Geschehnisse als einen „Ereignisblitz“, der unser Leben mit der Technik auf eine neue Grundlage stellt. Die Kernenergie hat keine Zukunft mehr. Herr Sloterdijk, „wo sind wir, wenn wir im Ungeheuren sind?“ heißt es in einem Ihrer Bücher. Wo sind wir also heute? Die Natur- und Technikkatastrophe in Japan hat Ausmaße, die viele apokalyptische Ängste angesichts der sogenannten Restrisiken der Atomkraftwerke zu bestätigen scheinen. Stehen wir vor einer Zeitenwende? Nun, die Menschen leben immer im Epizentrum von Erschütterungen, die an anderer Stelle und vor langer Zeit erfolgt sind. Es ist gut möglich, dass Immanuel Velikovsky mit seiner Theorie etwas getroffen hatte … … der zufolge vor Jahrtausenden ein großer Komet die Erde getroffen haben soll … … genau, und dass sich daraufhin über längere Zeit hin grauenerregende Himmelsschauspiele vollzogen haben, die die Menschen auf den Gedanken brachten, die zornigen Götter nur noch mit Menschenopfern beschwichtigen zu können. Aber in gegenwärtigen Endzeitängsten ist immer eine gewisse Nachwirkung von solchen archaischen Tauschgeschäften mit dem Himmel zu verspüren. Ich glaube, dass jetzt viele Menschen gerade unter dem Eindruck dieser Katastrophen, den schon geschehenen und den noch in der Luft liegenden, wieder bereit sind, den Göttern Tribut zu zahlen – und sei es mit Weltuntergangsängsten. Das Erdbeben vor Japans Küste soll, so heißt es, nicht nur die Erdachse ein wenig, sondern die Hauptinsel um zwei Meter verschoben haben. Welche Auswirkungen hat das auf unseren Naturbegriff? Wie steht es heute in Ihren Augen um die Idee der Beherrschbarkeit von Natur schlechthin? Wir haben eigentlich immer mehrere Naturbegriffe gleichzeitig gehabt. Darauf haben sowohl Niklas Luhman als auch der französische Orientalist und Anthropologe Louis Dumont immer hingewiesen. Es gibt einen Naturbegriff, der sozusagen die gute Natur meint, gewissermaßen die Ordnungsnatur, die im Sinne der Stoiker vorzustellen ist als eine kosmische Spieluhr, die unter normalen Bedingungen in harmonischer Weise abläuft. Wenn etwas stört, ist das meistens der Mensch, der etwas aus dem Takt gebracht hat. Aber es gab auch schon sehr früh einen dunklen Naturbegriff, in dem auch das scheinbar Unnatürliche zur Natur hinzugerechnet werden muss. Die Natur ist selber dann die Summe aus Natur und Unnatur. Und dessen werden wir uns immer dann bewusst, wenn wir es mit der Natur in ihrem zweiten Gesicht zu tun bekommen – also in ihrem großen titanisch-neptunischen und titanisch-vulkanischen Aspekt: Überschwemmungen und Erdbeben sind ihre Erscheinungsweisen. Ich glaube, diese beiden Aspekte – der Neptunismus und der Vulkanismus – und der stets drohende Kometenterror, der astrale Terror: Das sind die drei großen Kategorien der Natur, in denen sie ihre dunkle Seite zeigt. Und angesichts dieser Größen hat es eigentlich bei vernünftigen Menschen niemals Phantasmen absoluter Naturbeherrschung gegeben. Bei Karl Marx schon, denn er redet von Natur als einem gleichsam folgsamen Objekt des produktiven Stoffwechsels in einem linear fortschreitenden Prozess von Naturbeherrschung bis hin zu einem, Sie würden vielleicht sagen: dionysischen Naturzustand in Freiheit, in dem Katastrophen einfach nicht vorgesehen sind. Das ist richtig, aber das zeigt, dass sein Naturbegriff eben ein schon philosophisch pasteurisierter Begriff gewesen ist, in dem die drei großen Dimensionen der Unbeherrschbarkeit, eben die vulkanische, die neptunische, die astrale, von vornherein weggedacht wurden. 1910 gab es, wie Hans Urs von Balthasar in seinem Werk „Apokalypse der deutschen Seele“ sehr schön beschreibt, die allgemeine Erwartung eines Einschlags des Halleyschen Kometen. Merkwürdigerweise hat sich diese Erwartung aber damals vor allem, sehen wir von einigen Sekten ab, in Komödien manifestiert. Der technische Fortschrittsglaube war eben schon fest verankert in unserer deutschen Mentalität. Die Unruhe um den Halleyschen Kometen hatte mehr episodischen Charakter. Aber es gab eine andere Unruhe. Als deren Sprachrohr hat sich der große deutsche Physiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald hervorgetan. Er hat in dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das Gespräch erstmals darauf gebracht, dass die demiurgische Naturkraft, auf der die ganze zeitgenössische Zivilisation beruht, nämlich die Kohle, eine endliche Ressource ist. Das ist ein Gedanke, der von Ostwald zum ersten Mal systematisch durchdacht worden ist in seiner Schrift „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“ von 1909. Da taucht der Gedanke der Endlichkeit der Ressourcen zum ersten Mal auf. Und 15 Jahre später sieht man bei Martin Heidegger ganz genau, wie sich hier eine Begriffswanderung von der Physik in die Metaphysik vollzogen hat. Die Endlichkeitsanalyse ist seit dem Erscheinen von „Sein und Zeit“ eines der Leitthemen der zeitgenössischen Philosophie. Dieses Thema scheint nur in Bruchstücken bis nach Japan gedrungen zu sein; denn über Jahrzehnte hinweg galt das Land als eine Nation, die den technischen Fortschritt der Moderne nach Jahrhunderten der technischen Abstinenz zu einer Zivilreligion ausgerufen hat. Der Bau von Atomkraftwerken in Erdbebengebieten war selbstverständlich. Völlige Planbarkeit der Zukunft schien über wissenschaftliche Skepsis gesiegt zu haben. Erkennen Sie hier menschliche Hybris oder einfach nur planerische Ingenieursdummheit? Ich bin mit der Alternative „Hybris oder Ingenieursdummheit“ nicht ganz glücklich. Es gibt da noch ein Drittes, und ich glaube, das ist bei den Bauherren von großtechnischen Anlagen ganz allgemein zu bemerken. Es ist so etwas wie ein Optimismus, der sich diesseits des Gedankens an das Schlimmste ansiedelt. Und in dem Klima eines solchen gemäßigten oder pragmatischen Optimismus findet das durchschnittliche technische Leben der Gegenwart statt.
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