- Peer Steinbrück hat die alte Dame verstanden
Es war der bislang wichtigste Tag in seinem politischen Leben. Und Peer Steinbrück schafft es auf dem Parteitag in Hannover, seine SPD-Genossen geschlossen hinter sich zu bringen. Mit Demut und einem Ritt über festes sozialpolitisches Terrain
Für Ali K. ist es kein normaler Tag. Für Peer S. auch nicht. Ali ist Taxifahrer in Hannover. Peer will endlich offiziell Spitzenkandidat der SPD werden. Ali, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt und einen deutschen Pass besitzt, schiebt Extraschichten: 600 Delegierte und Hunderte Presseleute wollen schließlich dabei sein, wenn Peer Steinbrück auf dem Sonderparteitag in Hannover zum Kanzlerkandidaten gekürt wird. Vor wenigen Tagen chauffierte Ali noch die CDU-Konkurrenz zum Parteitag. Die seien allerdings schon um acht auf den Beinen gewesen, scherzt der Deutsch-Türke.
Die Anspannung ist Steinbrück anzumerken. Es sei einer der wichtigsten Tage in seinem Leben, ließ Steinbrück die Öffentlichkeit noch am Tag vor dem Sonderparteitag wissen. Er wolle diesen Tag zu seinem machen, einen sozialdemokratischen Neustart wagen. Und alle sind sie gekommen: Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Erhard Eppler.
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Wenige Tage zuvor hatte Angela Merkel in der Messehalle nebenan ihren großen Auftritt. Dort stimmte sie ihre CDU auf die bevorstehende Wahl ein und fuhr wie im Vorbeigehen ein bemerkenswertes Ergebnis ein. Mit fast 98 Prozent der Stimmen wurde sie als Vorsitzende ihrer Partei bestätigt. Ähnliches sollte Steinbrück an diesem Sonntag nicht gelingen. Doch mit 93,45 Prozent wird er bei der Nominierung zum Kanzlerkandidaten ein beachtliches und keineswegs selbstverständliches Ergebnis einfahren.
Anders als Merkel, die ihre Partei hinter sich weiß, haben die SPD-Genossen traditionell ein schwieriges Verhältnis zu Partei-Autoritäten. Steinbrück, ein Mann mit wirtschaftsliberalem Kompass, hat es da zusätzlich schwer, auf sozialdemokratischem Terrain zu punkten. Steinbrück muss sich den Rückhalt erst erkämpfen, muss erst über den Kampf zum Spiel finden.
Die CDU hat in Merkel ihr Alleinstellungsmerkmal. Die Vorsitzende ist die CDU, die CDU ist Merkel. Steinbrück hingegen muss erst beweisen, wie viel SPD tatsächlich in ihm steckt.
Und die letzten Wochen waren weder einfach für Steinbrück, der im Zuge der Debatte um seine Nebeneinkünfte so gut wie kein Fettnäpfchen ausließ, noch für die SPD, die mit ansehen musste, wie ihr Kandidat in den Wahlkampf stolperte.
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Entsprechend demütig beginnt Steinbrück seine fast zweistündige Rede. Mit sozialdemokratischen Bekenntnissen versuchte er die Genossen abzuholen: „Ja, ich bin stolz, ein deutscher Sozialdemokrat zu sein“. Es gelingt ihm.
Steinbrück legt in seiner Rede besonderen Wert darauf, an die Erfolge der Sozialdemokratie zu erinnern. Und irgendwie erinnert er wohl vor allem sich selbst daran: Vor Zeugen scheint er sich ins Gedächtnis zu rufen, was ihn, der so oft mit seinen Genossen fremdelte, denn eigentlich mit der Sozialdemokratie verbindet.
Und wie holt man zweifelnde Genossen auf seine Seite? Mit einem Ritt über festes sozialpolitisches Terrain: Quote, Ganztagsschulen, Mindestlohn, „vorsorgender Sozialstaat“. Hier trifft er die Genossen in ihrem Markenkern. Der Applaus ist ihm sicher.
Auch die Abteilung Attacke darf nicht fehlen: Deutsche Politik brauche wieder Haltung und Werte, spöttelt er in Richtung der Kanzlerin. Die CDU habe kein programmatisches Angebot. Merkel liefere „Popcornsätze“, in denen sich viel Luft und wenig Inhalt befänden. Es sei etwas aus dem Lot geraten, es gehe um ein neues Gleichgewicht, um die Renaissance der sozialen Marktwirtschaft.
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Auch der für Steinbrück typische Humor zündet an diesem Tag: Selten habe er so sehr gelacht wie bei der Aussage Merkels, sie führe die beste Regierung seit der Wiedervereinigung. Steinbrück lakonisch: Die Bundesregierung blende die Realität aus, so, als wenn man im Winter vor einer Strandtapete stehe und sich mit Sonnenmilch einreibe. Ein typischer Steinbrück.
Inhaltlich kündigt Steinbrück Steuererhöhungen – beim Spitzensteuersatz als auch bei den Kapitalerträgen – unter seiner Kanzlerschaft an. Die Mehreinnahmen wolle man in Bildung, Kommunen, Infrastruktur und Schuldenbremse stecken. Die Energiewende werde er zur Chefsache machen und den Wahlkampf klar proeuropäisch führen.
Steinbrücks Ziel und das der SPD: über Inhalt zum Erfolg. Das ist die Botschaft, die von diesem unprätentiösen Parteitag ausgehen sollte. Da Merkel als Person unangreifbar scheint, versucht die SPD über ihr Programm in die Erfolgsspur zu finden.
Die Botschaft ist unüberhörbar: Steinbrück ist bereit für die Kanzlerschaft, für den Wechsel, er will Rot-Grün, auch das betont er. Immer wieder streut er persönliche Passagen ein. Wird ruhig, intoniert besonnen und für Steinbrück'sche Verhältnisse fast schon emotional. Bedankt sich bei der Partei und im Besonderen bei Parteichef Sigmar Gabriel und Generalsekretärin Andrea Nahles. In Sachen parteireifer Emotionalität hatte ihm der Vorsitzende dann doch noch einiges voraus. Gabriel zeigte sich zwischendurch sogar so gerührt, dass ihm die Tränen kamen. Was sonst nur dem Fußball gelingt, gelang heute der SPD: Männer zum Weinen bringen.
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Kurzum: Steinbrück besteht. An diesem Tag. Er bringt die Genossen hinter sich. Mit für sozialdemokratische Verhältnisse völlig ungewohnter Harmonie. Mit Politik, Wort und Persönlichkeit. Zumindest an diesem Tag hat er die alte Dame verstanden.
Während Nahles den Sonderparteitag beendet und der DGB-Chor den Journalisten die Arbeit erschwert, wartet Ali in seinem Taxi bereits vor den Messehallen, um die Delegierten zur Bahn zu bringen. Steinbrück finde er gut, sagt er. Wählen wird er ihn dennoch nicht. Merkel sei einfach sympathischer.
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