- Sie nehmen es mit Rippenbrechern auf
Wenn am 6. Mai in München der Prozess gegen Beate Zschäpe beginnt, schauen nicht nur Opferangehörige und Medienvertreter zu: Der im April gestartete Blog „NSU Watch“ will das staatliche Versagen minutiös protokollieren. Die Aktivisten setzen sich dafür sogar Gefahren aus
Eike Sanders hält unter ihrem Kästchen-Schreibblock ein Knoppers versteckt. Sie bricht ein Stück ab und schiebt es lautlos in ihren Mund. „Für diese Sitzungen braucht man ganz viel Schokolade.“ Sanders, 34, Leinenhose, Khaki-Pulli, schwarze Brille, hockt mit angewinkelten Beinen auf der Besuchertribüne im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Unten, im kreisrunden Anhörungssaal, sitzt Peter Michael Haeberer, Ex-Chef der Abteilung Staatsschutz und später Leiter des Berliner Landeskriminalamtes. Er referiert gerade über das Führen von V-Männern. Es ist kurz nach 18.30 Uhr, der öffentliche Ausschuss tagt schon seit anderthalb Stunden. Eigentlich soll Haeberer erklären, warum seine Behörde Hinweise, die schon 2002 zum Jenaer Neonazi-Trio geführt hätten, nicht an Thüringen und Sachsen weitergeleitet hat. Da wurde vertuscht, geschreddert, da blühte ein zwielichtiges V-Mann-Unwesen: Erstmals stehen die Verstrickungen der Berliner Behörden auf der Tagesordnung.
In seinem Eingangsstatement geht Haeberer darauf aber nicht ein. Stattdessen: sein Monolog über eine Verwaltungsreform. Eine SPD-Frau unterbricht ihn: „Entschuldigen Sie, in welchem Jahr sind wir jetzt?“ – „Das war 1999.“ Der Saal lacht kurz. Agonie, die sich in Zynismus Bahn bricht.
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Oben nimmt Sanders einen weiteren Bissen. „Das ist eine ganz typische Taktik von Zeugen – den Saal durch stundenlange Einlassungen einschläfern.“ Einmal habe eine solche Sitzung 14 Stunden gedauert.
Eike Sanders arbeitet beim Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (Apabiz). Sie und andere Kollegen haben fast jede Sitzung des NSU-Untersuchungsausschuss verfolgt. Seit ein paar Wochen sind ihre Berichte auf dem Blog „NSU Watch: Aufklären und Einmischen“ zu lesen – teilweise auf Türkisch. Das bundesweit einzigartige Projekt vernetzt die Aktivitäten verschiedener Initiativen, die sich gegen rechts engagieren.
Die Tricks der Zeugen, die in Sachen Rechtsterror und Behördenversagen vor den Ausschuss zitiert wurden, kennt die Soziologin: „Verzögern. Sich an nichts erinnern. Blocken, wenn es um geheime Akten geht. Anderen die Schuld zuweisen.“ Da nütze es nichts, wenn ein pensionierter Beamter wie Haeberer einen Teil der organisatorischen Verantwortung auf sich nehme – seine Weigerung mitzuarbeiten diene nicht der Aufklärung.
Sie schüttelt den Kopf: „Manchmal frage ich mich, ob wir hier jemals die Wahrheit erfahren werden.“ In der Ausschusssitzung, in dem bis kurz vor 23 Uhr auch noch Innen-Staatssekretär Bernd Krömer vernommen wird, wird sie es jedenfalls nicht.
Sanders hat selbst so ihre Erfahrungen mit dem Berliner LKA gemacht. Vor einem Jahr ermittelte die Behörde gegen das antifaschistische Archiv. Eine bekannte Rechtsextremistin hatte das Apabiz beim Staatsschutz angezeigt, weil es über eine verbotene Neonazi-Webseite berichtet und deren Link als Quelle angeben hatte. „Das LKA hatte eine dicke Akte gegen uns zusammengetragen“, erzählt Sanders. „Völlig absurd.“ Ansonsten interessierten sich die Berliner Behörden weniger für das Archiv: „Hier ist noch nie eine Rechercheanfrage aus einem Berliner Amt angekommen.“
Seite 2: Neonazi-Postillen wie „Blutfeuer“ oder „Axtschlag“ füllen ganze Aktenordner
Das Pressearchiv in einem gekachelten Kreuzberger Hinterhof, vierte Etage, sammelt bereits seit 1991 Literatur zum Rechtsradikalismus. Es ist mittlerweile das größte seiner Art in Deutschland. Die hohe Altbauetage ist ein wahres Gruselkabinett: In einer Vitrine liegen Hakenkreuz-Fahnen, Bierflaschen mit Nazi-Etikett, in einer blutenden Puppe steckt ein Messer. Neonazi-Postillen wie „Der Rippenbrecher“, „Blutfeuer“ oder „Axtschlag“ füllen ganze Aktenordner.
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Dass die zivilgesellschaftlichen Initiativen die Spuren des NSU nicht schon eher erkannt hatten, ärgert die Aktivisten noch heute. „Wir haben zum Beispiel nicht laut genug die einseitigen Ermittlungen zu den ‚Dönermorden‘ hinterfragt“, sagt Sanders selbstkritisch. „Da hätten wir sicherlich mehr Druck aufbauen sollen.“
Dafür spüren die Mitarbeiter den Druck von Seiten der Neonazis. Vor ein paar Jahren kamen drei Leute einer Berliner Kameradschaft in die Räume des Pressearchivs um sie auszuspionieren. Immer wieder berichten Kollegen von Einschüchterungen.
In den sechseinhalb Jahren, die Sanders schon beim Apabiz arbeitet, ist sie daher vorsichtiger geworden. Sie will keine Porträtfotos von sich im Netz sehen, „denn Neonazis sammeln solche Kopfbildchen gerne“. Ansonsten hat sie den Mut auch aus ihrer Familie in Bremen mitgenommen: Ihre Mutter gab Flüchtlingen schon in den 90er Jahren freiwillig Deutschunterricht; anderswo brannten die Asylbewerberheime.
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Schneider, der die Idee mit dem Blog zuerst hatte, will auch den Prozess gegen Beate Zschäpe im München verfolgen. In der ersten Runde war das Apabiz bei der Akkreditierung für das Oberlandesgericht leer ausgegangen: „Wir erfuhren den genauen Zeitpunkt der Akkreditierung erst später als andere Medien“, sagt Schneider.
Dabei will der NSU-Watchblog umfassender berichten als traditionelle Medien. Kontinuierlicher. „Auch dann, wenn die anderen das Interesse verlieren“, sagt Eike Sanders. „Es darf nicht nur um den Prozess selbst gehen, sondern auch um die gesellschaftlichen Strukturen.“ Dass sie als Berichterstatterin für den NSU-Ausschuss ernst genommen wird, beweist, dass sie beim Bundestag – quasi als Eintrittsticket – den auffälligen roten Presseausweis erhält, der sonst nur Journalisten zusteht.
Die Sonderrolle des Watchblogs erkennt das Münchner Gericht erst gar nicht an. Wenn die Plätze am kommenden Montag ausgelost werden, gibt es keine Extra-Kategorien für derartige zivilgesellschaftliche oder forschende Berichterstatter. „Wir sind also im großen Topf mit allen anderen Medien“, sagt Sebastian Schneider. Die Chancen auf einen Platz sind minimal. Ähnliches hatten zuvor auch freie Journalisten und Onlinemedien kritisiert. Viel mehr ärgert den Blogger, dass der Saal mit 50 Plätzen überhaupt viel zu klein sei, um eine angemessene Öffentlichkeit herzustellen. „Das ist der eigentliche Skandal.“
Auch wenn es keinen Platz geben sollte, will sich Schneider nicht vom Gericht abwimmeln lassen: „Dann werde ich eben vor der Tür herumlungern“, sagt er und lacht.
Update: NSU Watch hat keinen festen Platz im Münchner Gerichtssaal. Der Blog hat zwar eine Presseakkreditierung, ist aber beim Losverfahren am Montag leer ausgegangen.
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