- Norbert Blüm und die Standhaftigkeit der Ja-Sager
Helmut Kohls langjähriger Arbeitsminister entdeckt im Alter die Tugenden des Bewahrens und zollt den „Ja-Sagern“ Respekt, die in Zeiten sich überschlagender Veränderungen das Erhaltenswerte verteidigen. Plädoyer eines „angelernten Konservativen“.
Zu meinen frühpubertären Berufszielen gehörte: Revolutionär, der die Welt auf den Kopf stellt. Auf meine späten Tage entdecke ich jedoch unerwartete konservative Neigungen. Früher gehörten meine Vorlieben dem Neuen, dem alles Alte weichen soll. Heute erkenne ich in alten Einsichten und Einstellungen Wertvolles, das bewahrt werden muss. Damals in meinen antiautoritären Schulzeiten bewunderte ich die „Nein-Sager“, die dem alten Lehrer und der alten Ordnung Widerstand entgegensetzten. Heute gilt mein Respekt der Standhaftigkeit der „Ja-Sager“, die Erhaltenswertes verteidigen. Die Mutprobe hat ihren bevorzugten Einsatzort gewechselt. Verteidigung verlangt offenbar mehr Tapferkeit als Eroberung.
Ob alt oder neu, beides sind nur Zeitenteiler. Das eine wie das andere kann richtig oder verkehrt sein. Beide stehen unter Rechtfertigungszwang.
Wer aber trägt die Beweislast? Muss das Alte beweisen, dass es besser als das Neue oder das Neue, dass es dem Alten überlegen ist? Ist vorwärts oder rückwärts gar nur eine Sache des Standpunkts und immer relativ zum Zielort?
Die Antwort auf diese Fragen entscheidet über die Methode der Problemlösung. Die Methode ist zwar noch nicht die Entscheidung, aber die Weise, mit der das Problem bearbeitet wird. In Zeiten sich überschlagender Veränderungen rate ich zu einem Beweislastvorsprung für das Erhalten von Bewährtem vor dem experimentellen Kopfsprung ins ungewisse Neue. Er gewährt dem Abwägen mehr Zeit. Es sind ganz alte Erfahrungen, die wieder reaktiviert werden müssen, um in den Turbulenzen der Moderne den Überblick zu behalten.
Atomkraft: Vorsicht wächst mit der Strecke, die zu überwinden ist. Kein Handwerker beginnt ein Werk, ohne zu wissen, wohin mit dem Abfall. Das sind alte Regeln, die vergessen wurden.
Der neuen Atomkraft gewährten wir den Einzug, ohne die Frage der Entsorgung geklärt zu haben. Die überließen wir den nachfolgenden Generationen.
Wir handhabten also das Neue, ohne seine Folgewirkungen einschätzen oder gar meistern zu können. Damit näherte sich unser Verhalten wieder der Magie: Beschwörung statt Beherrschung.
Schulden: Man darf nicht mehr kaufen, als man bezahlen kann, lehrte mich schon meine Oma. Heutzutage werden ganze Fabriken auf Pump gekauft und die Schuld mit der Arbeit der gekauften Firma abbezahlt. Mit anderen Worten: Der Verkäufer zahlt dem Käufer den Kaufpreis. (Eine Wunschvorstellung, der ich schon in Kindertagen vergebens nachjagte.)
Essen wir erst oder schaffen wir zuvor, fragt der faule Geselle und antwortet sich selber: „Essen wir zuerst, geschafft haben wir gleich.“ Amerika kauft erst und bezahlt … nie. 52,8 Billionen private und öffentliche Kredite stehen in den Vereinigten Staaten einem inländischen Sozialprodukt von 14,2 Billionen Dollar gegenüber. Die Amerikaner lassen auswärts arbeiten, um inländisch mehr zu verbrauchen. Das ist eine Variante des alten Klassenkampfs im neuen Gewand.
Aber warum in die Ferne schweifen?
Hierzulande wurden im Wahlkampf große Steuerentlastungen trotz hohem Schuldenberg in Aussicht gestellt. („Bild war dabei.“) Das widersprach der alten Einsicht, dass man nur etwas zurückgeben kann, das man hat.
Es sind ganz simple alte Weisheiten, über die sich eine junge, flotte Ignoranz hinweglügt.
Geld: Das Geld, das einst als Tauschmittel erfunden wurde, hat sich unter der Hand in einen „Reichtumsvermehrungsagenten“ verwandelt.
Geld vermehrt Geld. Geld arbeitet. Arbeitet Geld? Das Geld läuft der Arbeit davon. Das Weltsozialprodukt hat sich in 30 Jahren vervierfacht. Die Weltfinanzmasse dagegen vervierundvierzigfacht. Der Geldimperialismus ruiniert die Arbeit.
Das Finanzkapital schafft keine Werte. Es rast um die Welt wie der Fliegende Holländer, der nie einen Hafen fand. 99 Prozent der den Erdball umkreisenden Dollar-Billionen haben mit Arbeit, Gütern, Dienstleistung und Wertschöpfung nichts zu tun. Sie sind heiße Luft.
Mit Geld lässt sich leichter Geld verdienen als mit Arbeit. Produktionsstätten zu kaufen und zu verkaufen: Damit ist mehr Geld zu machen als in diesen Produktionsstätten Güter zu produzieren. Finanzgeschäfte lohnen mehr als jede Wertschöpfung. Porsche hatte in einem Jahr einen drei Milliarden höheren Gewinn als Umsatz. Die Rendite der Deutschen Bank erreichen weder ein Handwerksmeister noch ein Industriebetrieb.
Arbeit: „Die Arbeit ist die Quelle des Wohlstands der Völker.“ Das ist eine Weisheit, die Adam Smith, der „Erfinder“ der Marktwirtschaft, entdeckte. Seine neoliberalen Enkel erwarten dagegen alles Heil vom Kapital. Die Welt soll kapitalisiert werden. Selbst der Sozialstaat, Rente, Pflege, Krankenversicherung sollen an die Leine der „Kapitaldeckung“. Alles dreht sich ums Kapital. Arbeit wird zum Anhängsel.
Die Arbeitnehmer werden hin und her geschoben wie Zubehör und Ersatzteile. Der Normalarbeitsvertrag wird zur Ausnahme. 54 Prozent der unter 25-Jährigen arbeiten in atypischen Arbeitsverhältnissen. Jede achte Ehe lebt in einer Fernbeziehung. Aus allen Sozialbeziehungen schwindet Beständigkeit. Alles und alle werden auf Durchreise geschickt. Jahrtausende mussten wir mühsam lernen, sesshaft zu werden. Jetzt werden wir wieder Job-Nomaden.
Wir sahnen die Qualifizierten aus anderen armen Ländern ab. In Mali gibt es keine Krankenschwestern. Sie sind alle in Europa. Wir importieren Pflegekräfte aus der Dritten Welt. Informatiker beziehen wir aus Bangalore. Ausbildung ist teuer. Deshalb lassen wir auswärts ausbilden. Das ist kostengünstiger. Früher beuteten wir die Rohstoffe der Kolonialvölker aus, heute locken wir mit der Greencard ihre qualifizierten Arbeitskräfte zu uns.
Heimat, Nachbarschaft, Ehe verwandeln sich in nostalgische Reminiszenzen. Treue, Vertrauen und Zuverlässigkeit werden altmodisch.
Einem geborenen Konservativen – der ich nicht bin, ich bin nur ein Angelernter – muss dabei das Herz bluten.
Solidarität: Zu guter Letzt findet meine spät erwachte konservative Sehnsucht Zuflucht in der alten Wahrheit, dass ohne Solidarität keine Gesellschaft überleben kann.
Wir Menschen sind die Schwächsten unter allen Lebewesen. Von der Natur im Stich gelassen, sichert kein Institut unser Verhalten. Als „Mängelwesen“ überleben wir nur durch eine Kultur der Solidarität.
Immer und überall müssen deshalb die Starken die Schwachen stützen. Selbst wenn wir auf den Mond auswanderten, müssten, solange wir Mensch bleiben wollen, die Jungen für die Alten und die Gesunden für die Kranken sorgen.
Niemand wird durch Solidarität bevorteilt oder benachteiligt. Die Jungen werden einmal alt werden, und die Alten waren einmal jung. Kranke werden gesund und Gesunde krank, so gleicht sich alles solidarisch aus. Niemand ist nur Gebender oder nur Nehmender. Niemand ist immer stark. Keine noch so progressive Reform beißt an diesem solidarischen Urgesetz auch nur einen Faden ab.
„Jede Generation sorgt für sich selber“, diese Maxime der Jungliberalen und ihrer neoliberalen Mitläufer in der Jungen Union ist das Motto einer politischen Verblödung. Ich habe noch kein Baby sich selber stillen oder auch nur wickeln gesehen. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir aufeinander angewiesen. Diese alte Wahrheit macht das Leben schön. Sie ist die Quelle von Liebe und Sympathie. Und diese gehören zum Besten, wozu die Menschheit fähig ist.
Schlussfolgerung: Es sind ganz alte Wahrheiten, die mir im Alter wieder einfallen und Geschichten voll erfahrungsgesättigter Weisheiten. Die Hybris der Alleskönner fand schon im Turmbau zu Babel ihr mythisches Desaster. Das Gold, in das sich unter Midas Händen alles verwandelte, erwies sich als Fluch, um dessen Beendigung er flehte, sonst wäre er verhungert. Das Schlaraffenland gibt es nur im Märchen. „Ohne Fleiß kein Preis“ ist eine Volksweisheit und entspricht einer tief verwurzelten Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die meilenweit von Neid entfernt ist.
„Einer trage des anderen Last“ ist das biblische Sozialprogramm.
Dumm ist der Konservatismus nicht, denn in ihm sind Erfahrungen von Jahrhunderten konserviert.
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