- Angela Merkels Rücktrittsformel
Im zehnten Jahr ihrer Kanzlerschaft setzt Angela Merkel plötzlich alles auf eine Karte. Sie argumentiert moralisch und stellt indirekt die Vertrauensfrage. Bereitet da etwa jemand seinen Abgang vor?
Am 18. September 2005 fand jene vorgezogene Bundestagswahl statt, in deren Folge Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde. Zehn Jahre danach, im Spätsommer des Jahres 2015, steht die Frau immer noch an der Spitze der deutschen Regierung – vorerst unangefochten. Vor einigen Wochen diskutierte ihr kleinerer Koalitionspartner, die SPD, sogar darüber, ob es sich lohne, bei der nächsten Wahl überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Früher wäre solch eine Frage allenfalls im Kabarett gestellt worden, heute wirft sie ein leibhaftiger sozialdemokratischer Ministerpräsident auf. Auch Europas Staats- und Regierungschefs haben Angela Merkel faktisch als prima inter pares akzeptiert – manche mit Freude, manche mit Unwillen.
Doch plötzlich ist alles anders.
Die Flüchtlingskrise, inzwischen auch „neue Völkerwanderung“ genannt, verändert Europa grunderschütternd. Die Vorboten dieses Jahrhundertereignisses waren zwar längst abzusehen, aber jetzt erst beginnt sich die Situation in ihrer ganzen Dramatik zu entfalten. Wir erleben derzeit historische Tage, allenfalls vergleichbar mit dem Fall der Mauer oder den Anschlägen vom 11. September. Nichts wird hinterher noch so sein wie zuvor. Es ist die Zeit für Staatsmänner beziehungsweise für die Staatsfrau aus Deutschland. Die Frau mit dem freundlichen Gesicht. Angela Merkel weiß genau, dass dies ihre Herausforderung ist – daran wird sie von späteren Geschichtsschreibern gemessen werden. Und nicht an der Bewältigung der Spendenaffäre, der Finanzkrise oder an der Eurorettungspolitik, die angeblich ja ohnehin „alternativlos“ war.
Angela Merkel: die Vernunftpolitikerin zeigt Gefühle
Jetzt existiert eine Alternative, sie heißt Öffnung statt Abschottung. Und Angela Merkel, die ewige Zauderin, setzt tatsächlich alles auf eine Karte. Wäre es ein Spiel, könnte man sagen, es sei ein Spiel mit höchstem Risiko. Aber es ist kein Spiel, es ist bitterer Ernst. Denn es geht um Menschen, um Existenzen. Es geht um die Leben jener, die jetzt zu uns wollen. Und um die Lebensentwürfe aller, die in Deutschland zuhause sind. Deren Sorgen sind nur allzu berechtigt: Wie wird sich unser Staat verändern, wenn wir Millionen Zuzüglern eine neue Heimat bieten? Wer diese Frage als kleinbürgerlich-borniert abtut, hat nicht begriffen, wie ein Gemeinwesen funktioniert. Deswegen ist Merkels Überwältigungsstrategie auch so gefährlich, denn es droht eine gesellschaftliche Spaltung. Vielleicht ist sie auch schon da.
Beinahe zehn Jahre ist Angela Merkel jetzt Bundeskanzlerin – eine Frau, die im zurückliegenden Wahlkampf mit dem Spruch für sich warb: „Sie kennen mich.“ Und mit einem Mal erscheint sie vielen Menschen fremd – in Deutschland, in Europa. Die Vernunftpolitikerin, die bisher jede Situation vorausschauend und kühl zu meistern verstand, zeigt plötzlich Gefühle. Viele mögen das sympathisch finden, vielen macht es aber auch Angst. Zumal Angela Merkel ihren Kurs neuerdings auch noch mit geradezu grotesk anmutenden Ultimaten festlegt von wegen: Unter bestimmten Umständen sei das „nicht mein Land“.
Die Bundesrepublik ist für die deutsche Bundeskanzlerin demnach nicht „alternativlos“. Wie ist eine derart hochtrabende Ansage zu verstehen? Und das aus dem Munde einer Frau, die vor ein paar Jahren über die derzeit unter Hochdruck ablaufende Multikulturalisierung noch ganz anders gesprochen hat („absolut gescheitert“)?
Nun könnte man einwenden, vor dem Hintergrund der Elendsszenarien im Nahen Osten sei eine humanitär begründete Massenzuwanderung ihrerseits alternativlos. Aber dass genau dies nicht der Fall ist, zeigt ja die entsprechende Reserviertheit der meisten anderen europäischen Länder in dieser Angelegenheit. Angela Merkel hat die Flüchtlingskrise zu einer Frage der Moral zugespitzt, genauer gesagt: ihrer eigenen Moral. Denn nicht jeder europäische Staatschef, der dieser Tage vor den Folgen einer gleichsam unkontrollierten Zuwanderung warnt, handelt a priori unmoralisch. Wenn es so wäre, könnte die EU schon per definitionem keine Wertegemeinschaft sein. Das zu behaupten, so weit würde Angela Merkel auch in dieser Situation nicht gehen.
„Nicht mein Land“ – eine Rücktrittsdrohung?
Die Sentenz von wegen „nicht mein Land“ kann also nur als Rücktrittsdrohung verstanden werden. Über die Umstände eines Abgangs der ersten deutschen Bundeskanzlerin ist schon viel spekuliert und räsoniert worden, fast immer mit dem Tenor: Sie wird auch da das Heft des Handelns in den Händen halten wollen. Womöglich moderiert sie derzeit ihren Rücktritt an. Für den Fall, dass ihre Partei ihr bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme diesmal nicht mehr folgen mag, hätte sie jedenfalls eine historische Erzählung geschaffen: Rücktritt aus Gewissensgründen. Es wäre die Krönung der Laufbahn einer durch und durch außergewöhnlichen Politikerin. Ein Fall nicht nur für die Geschichtsbücher, sondern Erbauungsliteratur in Reinform.
Wenn am Dienstag, dem 22. September, um elf Uhr in Berlin die neue Biografie von Gerhard Schröder vorgestellt wird, dann hält dort eine sehr prominente Person die Laudatio auf den früheren deutschen Bundeskanzler. Nämlich seine Nachfolgerin Angela Merkel. Gerhard Schröder, so will es die Legende, ist einst über die Agenda 2010 gestürzt. Seine Partei hatte ihm die Gefolgschaft verweigert, aber dass er seine Linie dennoch durchgehalten hat, kostete ihn das Amt. Überhöht könnte man sagen: Er ging sehenden Auges in den Tod, weil er das Richtige für Deutschland wollte. So erzählt es übrigens auch sein Biograf Gregor Schöllgen, dessen Werk nächste Woche im Haus der Bundespressekonferenz präsentiert wird. Darin besteht Schröders Nimbus. Gut möglich, dass Angela Merkel ihn auch da übertrumpfen will.
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