() Kirsten Heisig, auch bekannt als "Richterin Gnadenlos"
Nicht alle Buben sind so böse
Das Buch „Das Ende der Geduld“ der verstorbenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig sorgt für Aufruhr. Doch ihre Thesen über zunehmende Kriminalität bei Jugendlichen sind fragwürdig und halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand
Am 26. Juli ist das von der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig kurz vor ihrem Suizid vollendete Buch „Das Ende der Geduld“ auf den Markt gekommen. In der Woche zuvor hatte der Spiegel bereits auszugsweise in einem Vorabdruck Heisigs zentrale Thesen verbreitet – wie etwa die Forderung nach geschlossener Heimerziehung für kriminelle Kinder oder nach härteren Strafen für junge Gewalttäter. Zwei Tage nach Erscheinen des Buchs war die erste Auflage verkauft. Landauf, landab profilierten sich sogleich Politiker und Medienkommentatoren mit entsprechenden Forderungen. Und der Bund Deutscher Kriminalbeamter wird Frau Heisig im September posthum die Auszeichnung „Bul le mérite“ verleihen.
Frau Heisigs Buch sollte allerdings nicht auf das verkürzt werden, was der Spiegel für seinen Vorabdruck ausgewählt hat – und was seither die öffentliche Diskussion prägt. Neben ihren sehr angreifbaren kriminologischen Einschätzungen und kriminalpolitischen Forderungen bietet Kirsten Heisig dem Leser einen differenzierten Erfahrungsbericht aus ihrer jugendrichterlichen Praxis. Wir lernen eine Frau kennen, die sich persönlich weit über ihre dienstlichen Pflichten hinaus für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse von sozial randständigen Kindern und Jugendlichen in ihrem Stadtteil eingesetzt hat. Eine Frau, die abends Informationsveranstaltungen für Eltern aus türkischstämmigen und arabischstämmigen Familien durchgeführt hat, die immer wieder den Stellenabbau in der Jugendhilfe und den Mangel an konstruktiver Zusammenarbeit der Berliner Behörden scharf kritisierte, die sich positiv wertschätzend über sozialpädagogische Angebote zum Antigewalttraining ausspricht. Und die konstruktive Vorschläge zur Bekämpfung des Schuleschwänzens unterbreitet und in Zusammenarbeit mit Kollegen ihr Neuköllner Modell zur zeitlichen Verkürzung von Jugendgerichtsverfahren in der ganzen Stadt Berlin durchgesetzt hat. Hierfür verdient Frau Heisig großen Respekt.
Aber all das interessiert die Medien wenig. Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen die beiden folgenden Thesen:
– In den Köpfen der Kinder und Jugendlichen vollzieht sich laut Heisig eine schleichende Brutalisierung, verbunden mit nahezu dem Verlust jedweder Hemmschwelle. In der Folge nähmen schwere Gewalttaten Minderjähriger in erschreckendem Maß zu.
– Diese bedrohliche Entwicklung ist aus der Sicht Heisigs primär den Migranten zuzurechnen, die vor allem bei den Intensivtätern mit zehn und mehr registrierten Taten klar dominieren würden.
Hätte Frau Heisig recht, dann müssten Schlägereien auf Schulhöfen in den vergangenen zehn Jahren weit häufiger als früher im Krankenhaus geendet haben, und aus den gefährlichen Körperverletzungen hätten sich öfter als früher Tötungsdelikte entwickeln müssen. Aber beides trifft eindeutig nicht zu. Sogenannte „Raufunfälle“ auf Schulhöfen, bei denen die Verletzten Frakturen erlitten haben (etwa Arm- oder Nasenbeinbrüche), werden aus versicherungsrechtlichen Gründen bundesweit fast lückenlos erfasst. Sie sind aber seit ihrem Höchststand im Jahr 1997 bis zum Jahr 2007 um 44 Prozent zurückgegangen. Zudem widerlegt die Entwicklung der Zahl jugendlicher Tatverdächtiger, die von der Polizei wegen Tötungsdelikten registriert worden sind, die Einschätzung Heisigs. Mit 7,6 jugendlichen Tatverdächtigen je 100.000 Personen in dieser Altersgruppe war in Deutschland der Höchststand bereits im Jahr 1993 erreicht. 2009 lag diese Zahl bei 6,66 – und damit um 12,5 Prozent niedriger als 16 Jahre zuvor.
Diese positive Entwicklung zeichnet sich auch bei den Raubdelikten Jugendlicher ab: Die Zahl der Tatverdächtigen pro 100.000 Personen in der entsprechenden Altersgruppe, die sogenannte Tatverdächtigenbelastungsziffer (TVBZ), erreichte bundesweit ihren höchsten Stand im Jahr 1997 und ist bis 2009 um 28,2 Prozent zurückgegangen. Sogar bei den gefährlichen/schweren Körperverletzungen, wo die TVBZ der Jugendlichen zwischen 1997 und 2007 noch knapp um 60 Prozent gestiegen war, vermeldet der Bundesinnenminister für die vergangenen beiden Jahre einen Rückgang um 6,6 Prozent.
Für Frau Heisigs Fehleinschätzungen bieten sich zwei Erklärungen an. Die eine lautet schlicht: Neukölln ist nicht ganz Berlin, und Berlin steht nicht für ganz Deutschland. Frau Heisig war als Jugendrichterin für einen Stadtteil zuständig, der wegen seiner (von Frau Heisig sehr eindringlich beschriebenen) sozialen Probleme innerhalb Berlins wohl das höchste Gewaltpotenzial haben dürfte. Und Berlin wiederum ist nach den Daten der Polizei nun einmal die Stadt in Deutschland, in der Jugendliche das mit Abstand höchste Risiko tragen, Opfer einer Gewalttat zu werden. Frau Heisigs verzerrte Sichtweise könnte aber noch einen zweiten Grund haben: ihre zwanzigjährige Tätigkeit in der Berliner Strafjustiz. Möglicherweise war sie von einem Phänomen betroffen, das ich auch schon bei manchem ihrer Berufskollegen beobachtet habe. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, leiden sie darunter, dass sie im Gerichtssaal vor allem mit den Misserfolgen ihrer Arbeit konfrontiert werden. Denn bei den Angeklagten handelt es sich überwiegend nicht um Ersttäter, sondern um junge Menschen, die sie bereits aus früheren Verfahren kennen. Dabei hatten die doch Besserung gelobt – und nun stehen sie schon wieder da. Ende der Geduld! Vor allem pädagogisch engagierte Jugendrichter laufen Gefahr, den Rückfall des Angeklagten als eine persönliche Enttäuschung zu erleben. Und wenn das über mehr als zehn Jahre so läuft, man zusätzlich im Stadtteil viele Aufgaben übernommen hat und Enttäuschungen mit kooperierenden Behörden verkraften soll, wenn man sich deshalb häufig allein gelassen und frustriert fühlt, kann daraus ein massiver Burnout-Effekt erwachsen. Frau Heisigs Buch vermittelt den Eindruck, dass sie in eine derartige persönliche Sackgasse geraten sein könnte, die auch ihre kriminologischen Bewertungen erheblich beeinflusst haben dürfte.
Aber stimmt denn nicht wenigstens ihre zweite These, dass es sich nämlich bei den gewalttätigen Mehrfachtätern überwiegend um Jugendliche mit Migrationshintergrund handelt? Die bundesweite Repräsentativbefragung von 45.000 Jugendlichen durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat das für die Jahre 2007/2008 nur im Hinblick auf westdeutsche Großstädte bestätigt. Dort waren 41,1 Prozent der Jugendlichen Migranten, aber unter den Mehrfachtätern der Jugendgewalt (fünf und mehr Delikte im zurückliegenden Jahr) betrug ihr Anteil 57,4 Prozent. Frau Heisig kommt zumindest im Hinblick auf Berlin zu einem wesentlich höheren Anteil. Aber sie legt dabei die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zugrunde und blendet damit eine gesicherte Erkenntnis der kriminologischen Forschung aus: Gewaltopfer zeigen fremde Täter weit häufiger an als solche, die ihnen eher vertraut sind. Die Repräsentativbefragung hat es deutlich gezeigt: Wenn der deutsche Max vom deutschen Moritz angegriffen wird, beträgt die Anzeigequote 19,5 Prozent. Sie steigt hingegen auf 29,3 Prozent, wenn es sich beim Täter um den türkischen Mehmet handelt. Bei der umgekehrten Konstellation, dass ein junger Migrant von einem deutschen Täter angegriffen wird, sinkt sie dagegen auf 18,9 Prozent. Junge Deutsche haben also ein erheblich niedrigeres Risiko als junge Migranten, wegen ihrer Taten eine Strafverfolgung zu erleben. Bei Letzteren ergibt sich nur dann ein relativ niedriges Anzeigerisiko, wenn sie jemanden aus der eigenen Ethnie attackiert haben (21,2 Prozent). Doch das alles ficht Frau Heisig nicht an. Sie bleibt unbeirrt bei ihrer Einschätzung, dass die von der Polizei und der Staatsanwaltschaft mitgeteilte Quote, wonach 70 bis 80 Prozent der jugendlichen Intensivtäter Migrationshintergrund aufweisen, ein Abbild der Wirklichkeit sei.
Mit dieser Kritik soll keineswegs bestritten werden, dass junge Migranten erheblich häufiger Gewalttaten begehen als junge Deutsche. Wir haben das in unseren beiden Forschungsberichten, die aus der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008 entstanden sind, deutlich herausgestellt. Aber wir können eben auch aufzeigen, dass diese Unterschiede der Gewaltbelastung bei Berücksichtigung des Dunkelfelds erheblich kleiner ausfallen als auf der Basis polizeilicher Daten. Und wir konnten ferner deutlich machen, dass sie völlig verschwinden, wenn wir nicht mehr länger Äpfel mit Birnen vergleichen, sondern deutsche Jugendliche mit solchen jungen Migranten, die denselben sozialen Verhältnissen entstammen, die keine innerfamiliäre Gewalt erlebt haben, die die Normen der Machokultur ablehnen und schulisch mindestens den Realschulabschluss anstreben. Gleichzeitig wird an diesem Befund deutlich, wo wir ansetzen müssen, wenn wir die hohe Gewaltrate junger Migranten nachhaltig reduzieren wollen.
Welche Handlungsempfehlungen leiten sich also aus dieser Analyse der Jugendgewalt ab? Im Hinblick auf die stark problembelasteten Kinder empfiehlt Frau Heisig die geschlossene Heimunterbringung – alles andere sei pseudoliberale Heuchelei. Dabei negiert Frau Heisig erneut einen klaren kriminologischen Befund. Das Einsperren von kriminellen Kindern fördert spätere Kriminalitätskarrieren anstatt sie zu verhindern. Warum? Weil das enge Zusammenleben von extrem hoch belasteten Kindern und Jugendlichen zu negativen Ansteckungseffekten führt. Für die Zehn- bis Sechzehnjährigen ist nun einmal die Orientierung am Verhalten der Gleichaltrigen wichtiger als das, was Erwachsene ihnen sagen. Vom Nein zur geschlossenen Heimerziehung sollte es freilich eine Ausnahme geben: die Krisenintervention bei Kindern, die völlig von der Rolle geraten sind und sich und andere gefährden. Sie für sechs bis zehn Wochen aus dem Verkehr zu ziehen, schafft oft erst die Voraussetzung dafür, dass man solche Kinder und ihre Eltern von einer sinnvollen Alternative überzeugen kann: den Wechsel in eine gut ausgebildete, pädagogisch betreute und gut bezahlte Pflegefamilie. In Baden-Württemberg hat der Verein „Arkade e.V.“ hierfür ein überzeugendes Konzept erarbeitet.
Zur Bekämpfung der Jugendgewalt setzt Heisig auf eine Doppelstrategie. Einerseits bietet ihr Buch eine Fülle von Anregungen dafür, wie man die Prävention verstärken sollte. Alle diese Vorschläge – von der Früherkennung gefährdeter Familien und den daran anknüpfenden Maßnahmen der Familienhilfe über eine verbesserte Zusammenarbeit von Schulen und Jugendhilfe sowie der effektiven Bekämpfung des Schuleschwänzens bis hin zur Forderung nach flächendeckender Einrichtung von Ganztagsschulen – sind uneingeschränkt zu begrüßen. Wenn es aber um die Frage geht, wie der Jugendrichter reagieren sollte, ist man überrascht, wie blind Heisig für die Risiken zu sein scheint, die mit Freiheitsentzug verknüpft sind.
Mit Recht fordert sie im Hinblick auf ambulante Maßnahmen wie etwa ein Antigewalttraining eine kritische Bewertung, „ob es etwas bringt“. Aber dass der Jugendarrest eine Rückfallquote von 70 Prozent aufweist und damit erheblich schlechter abschneidet als alle ambulanten Maßnahmen oder die Unterstellung unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers, erfährt der Leser nicht. Ebenso wenig wird er darüber informiert, woran es denn liegt, dass der Jugendarrest den Rückfall in besonderer Weise fördert. Dabei weiß das doch schon der Volksmund: „Und ist der Ruf erst ruiniert, so lebt’s sich gänzlich ungeniert.“ Hinzu kommt, dass man im Arrest die falschen Leute trifft und so die falschen Freundschaften schließt. Das aber ist für Jugendliche der wirksamste Einflussfaktor in Richtung einer kriminellen Karriere. Wer in seinem sozialen Netzwerk mehr als fünf Freunde hat, von denen er weiß, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten bestimmte Straftaten begangen haben, der wird im Vergleich zu Jugendlichen, die keine solchen Freunde haben, mit einer 54-mal höheren Wahrscheinlichkeit selbst zum gewalttätigen Mehrfachtäter.
Die Tatsache, dass Heisig locker über ihren „Ursprungsreflex“ schreibt, schnell mit Arrest zu reagieren, lässt vermuten, dass sie sich nie mit zwei für die jugendrichterliche Praxis grundlegenden Forschungserkenntnissen auseinandergesetzt hat. Zum einen ergab sich in München vor dreißig Jahren die seltene Chance, die Rückfallquote pro Jugendrichter zu ermitteln, weil diese dort ihre Fälle nach dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens ihrer Angeklagten erhalten (und nicht wie üblich für bestimmte Stadtteile zuständig sind). Im Ergebnis zeigte sich, dass die Jugendrichter, die am häufigsten Jugendarrest angeordnet hatten, bei ihren im Vergleich identisch zusammengesetzten Gruppen von jugendlichen Straftätern die höchsten Rückfallquoten zu verzeichnen hatten. Ebenso wenig scheint Heisig mit dem vertraut zu sein, was der Kriminologe Wolfgang Heinz in seinem Eröffnungsvortrag des 21. Deutschen Jugendgerichtstags als Fazit seiner überaus gründlichen Analyse nationaler und internationaler Forschungen über jugendliche Gewaltkarrieren dargelegt hat: „Frühzeitige und einschneidende Eingriffe sind nicht besonders wirkungsvoll, sondern besonders gefährlich. Eine ,Strategie des Zuwartens‘ zeitigt bessere Ergebnisse. Milde zahlt sich aus.“ Der Titel von Kirsten Heisigs Buch „Das Ende der Geduld“ vermittelt schlicht die falsche Botschaft.
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