- Neue deutsche Farbenlehre
Nicht nur das Programm und die Kandidaten entscheiden die Bundestagswahl, sondern auch die Bündnisfrage: Wer regiert mit wem? Doch die Parteien stehen im Vielparteiensystem vor einem schier unlösbaren Dilemma
Wenn nichts mehr dazwischen kommt, wenn sich CDU, CSU und FDP nicht noch völlig zerstreiten, dann findet die nächste Bundestagswahl in zwölf Monaten statt. Wie diese ausgeht, ist völlig offen. Seriöse Prognosen lassen sich aus den aktuellen Meinungsumfragen nicht ableiten. Die Wechselbereitschaft der Wähler ist so hoch, die Schwankungen in der Wählergunst sind so groß wie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte.
Doch wenn im September 2013 die insgesamt 62 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland an die Wahlurnen gerufen werden, dann haben sie nicht nur zwei Stimmen, sondern zugleich die dreifache Wahl. Sie müssen dann nicht nur darüber entscheiden, welcher Partei und welchem Kanzler sie die Zukunft des Landes anvertrauen wollen. Zur Wahl stehen nicht nur die Visionen, Werte und Klientelversprechen, nicht nur zwei oder mehr Kanzlerkandidaten, sondern vor allem auch mögliche Regierungsbündnisse.
Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot oder Rot-Grün, Rot-Rot-Grün, Schwarz-Gelb-Grün oder Rot-Grün-Gelb - die neue deutsche Farbenlehre macht den Wahlkampf für die Parteien zu einer komplexen Herausforderung. Je mehr Parteien in den Bundestag einzuziehen, desto schwieriger wird es nicht nur, im Bundestag stabile und regierungsfähige Mehrheiten zu bilden. Je mehr Parteien sich im Vielparteiensystem Konkurrenz machen, desto schwieriger wird es für die Parteien zugleich, im Wahlkampf die Bündnisfrage zu kommunizieren.
In diesen Wochen stellen Regierung und Opposition die für den Wahlkampf, diskutieren ihre Wahlprogramme und küren ihre Spitzenkandidaten. Dabei könnte sich vor allem die Frage, auf welche Koalitionsoptionen für die Regierungsbildung die Wahlkämpfer setzen, in zwölf Monaten als wahlentscheidend erweisen. Die SPD zum Beispiel war bei der Bundestagswahl 2009 auch deshalb auf 23 Prozent abgestürzt, weil sie keine realistische Machtoption jenseits der Großen Koalition präsentieren könnte. Völlig vergeblich hatte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier um die Gunst der FDP für eine Ampelkoalition geworben. Anderseits nutzte es der CDU zuletzt bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein wenig, dass sie stärkste Partei geworden war. Weil der Koalitionspartner FDP schwächelte, reichte es nicht für eine bürgerliche Mehrheit, die SPD hingegen konnte nicht nur auf Rot-Grün setzen, sondern hatte mit dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) eine entscheidende Machtoption mehr.
Die Farbenlehre des bundesdeutschen Parteiensystems ist ziemlich unübersichtlich geworden. Die ideologischen Schlachten gehören der Vergangenheit an, die Lagergrenzen diffundieren. In einem Land, in dem die CDU Atomkraftwerke abschaltet, die SPD die Kürzung von Sozialleistungen durchsetzt und die einst pazifistischen Grünen in den Krieg ziehen, gibt es keine unüberwindbaren Hürden zwischen den einst antagonistischen Parteien mehr, die einer Regierungszusammenarbeit im Wege stehen. Im fragmentierten Parteiensystem bieten sich somit viele Koalitionsmöglichkeiten. Ziehen auch die Piraten in den nächsten Bundestag ein, wird es machtpolitisch noch sehr viel bunter. Zugleich wird es noch unwahrscheinlicher, dass es 2013 für eines der beiden traditionellen Zweierbündnisse jenseits der Großen Koalition reicht. Wunschkoalitionen zwischen Union und FDP beziehungsweise SPD und Grünen sind im Vielparteiensystem ein Auslaufmodell.
Seite 2: Die Opposition sucht nach Köpfen
Von den Wahlkampfstrategen der Parteien werden deshalb längst die unterschiedlichsten Machtoptionen strategisch durchgespielt. Christdemokraten diskutieren offen über mögliche Bündnisse mit den Grünen, für manchen Liberalen ist eine Ampelkoalition mit FDP und Grünen kein Teufelszeug mehr. Die SPD erinnert sich wieder gerne an sozialliberale Zeiten. Die Grünen wiederum wissen, dass sie zum strategischen Verlierer im Parteienwettbewerb werden könnten, wenn sie sich nicht von ihrer Fixierung auf die SPD und rot-grüne Bündnisse lösen. Gerade in Krisenzeiten gewinnt zudem die Große Koalition an Attraktivität.
Trotzdem stehen alle Parteien in der Praxis vor einem schier unauflöslichen Dilemma. Denn die Erwartungen von Stammwählern und Wechselwählern sind sehr unterschiedlich. Die traditionellen Anhänger der Parteien orientieren sich weiterhin an den alten Frontstellungen des Parteiensystems. Für sie stehen sich das linke und das bürgerliche Lager weiter unversöhnlich gegenüber. Sie reagieren verschnupft, wenn traditionelle Grundüberzeugungen aufgegeben werden, um neue Wähler zu erreichen oder um sich neue Machtoptionen zu erschließen. Für viele Wechselwähler hingegen stehen bei der Wahlentscheidung nicht mehr die alten Werte der Parteien im Vordergrund, sondern Partikularinteressen, die Spitzenkandidaten und eben die Bündnisfrage. Einerseits müssen die Parteien also in ihrer Kommunikation mit den Wählern der überholten Lagerlogik folgen. Andererseits müssen sie diese durchbrechen. Einerseits müssen sie überzeugend für ihre Wunschkoalition werben, anderseits müssen sie sich möglichst viele Machtoptionen glaubwürdig offenhalten.
Für die Union, die FDP und auch die Grünen ist die Situation 2013 nicht einfach. Vor allem die SPD jedoch steht 2013 vor einem ähnlichen Dilemma wie 2009. Allein auf einen Sieg von Rot-Grün zu setzen, ist für die SPD gefährlich, vor allem dann, wenn die Wahlkämpfer selbst nicht daran glauben. Die Aussicht auf die Große Koalition, wohlmöglich erneut als Juniorpartner, wirkt vor allem bei den Stammwählern demobilisierend. Das Werben um die FDP hingegen könnte sich erneut als aussichtslos erweisen. Einerseits kann die Regierungspartei FDP nicht mitten im Wahlkampf zur Opposition überlaufen. Andererseits muss die SPD gegen Schwarz-Gelb und damit gegen die FDP polarisieren. Und selbst wohlmeinende Liberale werden spätestens dann verschreckt, wenn die Sozialdemokraten zum Beispiel mit der Forderung nach einer Reichensteuer in den Wahlkampf ziehen. Wenn die Machtoption, nicht zu den Wahlversprechen passt und beides nicht zum Spitzenkandidaten machen sich die Wahlkämpfer unglaubwürdig.
Derzeit suchen die Oppositionsparteien nach den Köpfen für den Wahlkampf. In der SPD belauert sich die Troika, bei den Grünen entscheidet die Basis. Doch Kanzler- und Spitzenkandidaten müssen nicht nur zum Programm passen, sondern zugleich zu den möglichen Bündnisoptionen. Sonst tappen sie in die Glaubwürdigkeitsfalle, der Wahlkampf ist bereits verloren, bevor er richtig begonnen hat.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.