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Nachrichten im Ersten - Die „Tagesthemen“ als Romanwerkstatt

Kisslers Konter: Mit großem Aufwand lobt sich das erste Fernsehprogramm im hauseigenen „ARD-Check“. Schade, dass die „Tagesthemen“ zuvor den Gegenbeweis antraten. Über die Kölner Wahl berichtete sie im Stil eines Empfindungsromans. Betroffenheit aber ersetzt keine Fakten

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Das Schmähwort von der „Lügenpresse“ ist doppelt falsch. Zum einen wird bei der Presse längst nicht so häufig gelogen wie bei der Partnerschaftsanbahnung, im Tourismusgewerbe oder der Immobilienbranche. Zum anderen kennen nicht nur Presseerzeugnisse die Versuchung, sich die Wahrheit zurechtzubiegen. Auch audiovisuelle Medien, auch Rundfunk und Fernsehen, nisten zuweilen in solchen Abgründen. Ein Beispiel, warum das so ist, lieferten die „Tagesthemen“ am 18. Oktober. Die Gegenrede, warum nicht sein kann, was nicht sein darf, weshalb das gebührenfinanzierte Fernsehen also ein Hort der Unabhängigkeit und Objektivität sei, folgte tags darauf im „ARD-Check“.

Der Reihe nach: Das Attentat vom 17. Oktober auf die Kandidatin zur Kölner Oberbürgermeisterwahl Henriette Reker, dieser Mordversuch aus höchstwahrscheinlich fremdenfeindlichen Motiven, schlug Schockwellen weit über die Domstadt hinaus. Sollte man die für den kommenden Tag angesetzte Wahl dennoch stattfinden lassen? Sollte die damals sich im Koma befindliche Frau Reker unverändert gewählt werden können? Alles Andere als ein doppeltes Ja wäre ein Zurückweichen vor der Gewalt, ein Einknicken vor dem Extremismus gewesen. Die Erleichterung war allgemein am Wahltag des 18. Oktober. Henriette Reker wurde mit über 52 Prozent der abgegebenen Stimmen zur neuen Oberbürgermeisterin der Stadt Köln gewählt. Die Wahlbeteiligung betrug 40,28 Prozent.

Verschwiegenes Faktum


In den „Tagesthemen“ griff daraufhin Moderator Thomas Roth zu jenen Sätzen, die für solche Fälle sicher verwahrt liegen im Modellbausatz der Textschablonen: Der Attentäter habe „durch seine Bluttat genau das Gegenteil dessen erreicht, was er erreichen wollte. Jetzt erst recht: Unter diesem Motto machten die Kölner die Wahl ihres neuen Stadtoberhauptes zu einem Statement gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen Gewalt.“ Schön. Stimmt das aber? Die Autorin des folgenden Beitrags sprach vom „Trotz-Effekt“, der „dominiert“ habe, „auffallend viele junge Wähler gaben ihre Stimme ab.“ Ein junges Gesicht, weiblich, sagte in die Kamera, Wählen sei Bürgerpflicht, ein männliches Pendant ergänzte, er sei zur Wahl gegangen, weil „in den sozialen Netzwerken“ der Hass zunehme. Die Journalistin bekräftigte: „Jetzt erst recht, Wählen gehen, das bleibt die Reaktion auf das Attentat bei der heutigen Wahl.“

Doch abseits des optischen Eindrucks, der subjektiven „Auffälligkeit“, hier seien mehr junge Menschen zur Wahl gegangen als sonst – eines Eindrucks, der stimmen kann oder nicht, Zahlen wurden nicht genannt –, abseits dieses guten Empfindens bleibt das harte, bittere, von den „Tagesthemen“ verschwiegene Faktum: Nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gingen weniger Menschen zur Wahl als am Tag Eins nach dem Mordversuch auf die spätere Oberbürgermeisterin, nie. Sehr zu Recht geriet Bernd Dörries in der Süddeutschen Zeitung außer sich: „Viele Kölner haben (…) den Attentäter gewinnen lassen, indem sie seiner Tat keine starke Reaktion entgegenstellten. (…) Die Demokratie ist nicht nur von denen bedroht, die Demokraten tätlich angreifen. Demokratie wird auch von jenen bedroht, denen die Demokratie offenbar egal ist. Sechzig Prozent der Kölner gehörten am vergangenen Sonntag dazu.“

Widerspruch zwischen Schein und Sein


So und nicht anders ist es gewesen. Dass die „Tagesthemen“ an die Stelle der Tatsache – rekordtiefe Wahlbeteiligung – einen wohlmeinenden, zahlenbefreiten Eindruck setzten – viele junge Wähler – bestätigt exakt jene Wahrnehmung, die beim hauseigenen „ARD-Check“ dann eine Frau so ausdrückte: Ihr fehlten „Zahlen, Daten, Fakten“, es gebe in den Nachrichten „zu viel Betroffenheit“ und „zu wenig kritische Distanz“, die „zunehmende Informationsverflachung“ bedrücke sie. Was gerade bewiesen worden war. WDR-Intendant Tom Buhrow hielt daraufhin unverdrossen am Ideal fest, „wir wollen die Fakten so bringen, dass Sie sich selbst ein Bild machen können“, ARD-Vorsitzender Lutz Marmor sekundierte später, Information sei die „Währung der Demokratie“, weshalb die Gebührenpflicht für alle vertretbar sei, für Zuschauer wie Abstinenzler.

Ja, beim „ARD-Check“, diesem Krönungsfest der eigenen Totalkompetenz, Weihrauch und Fanfare inklusive, fielen noch andere Selbstrechtfertigungen, die zu hinterfragen sich lohnte. Doch dieser Widerspruch zwischen Sein und Schein, Wirklichkeit und Anspruch in den Nachrichtenformaten ist eklatant. Wenn ein Bericht zu einer Wahl sich darin erschöpft, die Wähler zu loben, wird die Währung der Demokratie in kleiner Münze ausgezahlt, in sehr gemischter Legierung, mehr Zink als Silber, von Gold ganz zu schweigen. Die öffentlich-rechtlichen Nachrichten von ARD und ZDF sollten künftig seltener Haltungsnoten für zivilbürgerliche Vorbildlichkeit vergeben und öfter erzählen, was sich da zutrug, wie es gewesen ist. Wer die Nacherzählung überspringt und sich gleich in die Moral flüchtet, der ist in einer Romanwerkstatt vielleicht besser aufgehoben als bei den „Tagesthemen“.

 

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