- Wie Reem zum Spielball wurde
Ihre Tränen vor der Kanzlerin rührten das Land – bis ein „Welt“-Journalist dem palästinensischen Mädchen Reem Sahwil Sätze zu Israel entlockte. Seitdem tobt ein Streit: Die Zeitung sieht sich mit einer drohenden Schadenersatzklage konfrontiert und hat Reems Aussagen auf der Webseite gelöscht
Die Nachfrage nach Interviews sei nach wie vor hoch. Doch wer was wann und wo veröffentlichen wird, bestimmt jetzt ein Berliner Advokat. „Die Einzelheiten wird mein Rechtsanwalt klären“, zitiert er die 14-Jährige in einer Pressemitteilung. Hans-Eberhard Schultz hat sich Reem Sahwil angenommen. Da war sie schon berühmt. Der Rummel habe in den vergangenen Wochen viel Energie gekostet, sagte Schultz der Deutschen Presse-Agentur. Und dass er jetzt „Ruhe in die Sache bringen“ wolle.
Die Sache. Die hat mit einem Artikel in der „Welt am Sonntag“ (WamS) und mit ihrem Chefreporter zu tun, der im Juli „zu Besuch bei Reem“ war. „So sieht das berühmte Flüchtlingsmädchen die Welt“, titelte er die Home-Story aus dem Rostocker Plattenbau. Wobei Reem kein Flüchtling aus einem aktuellen Krisengebiet ist. Sie kam aus dem Palästinenserlager Jalil im Libanon bei Baalbek, wo die Hisbollah regiert und Terroristen rekrutiert werden, auch für den „Islamischen Staat“. Das Lager wurde 1948 von Arabern gegründet, die aus Israel geflohen sind.
„Was heißt eigentlich Palästina?“
Reem ist, wie bereits ihre Eltern, im Lager geboren. Ein brutales Umfeld, das man heranwachsenden Kindern nicht zumuten will. Sie flüchtete nicht vor einem Krieg, sie kam nach Europa, um wegen ihrer Behinderung medizinisch behandelt zu werden. Welche Eltern würden das nicht für ihr Kind tun?
Der Weg nach Deutschland führte über das schwedische Malmö, wo bereits Verwandte der Familie Sahwil lebten. Hier sind auch radikalisierte Palästinenser nicht selten. Das sagt nicht, dass man Teil davon ist, nur wäre es naiv, zu glauben, dass ein Kind nicht geprägt sein würde auch von solchen Einflüssen.
„Was heißt eigentlich Palästina?“, fragte der Welt-Reporter an jenem Tag in Rostock das Kind in seinem Zimmer. Die Frage musste sich aufdrängen. Wieso hatte kein Journalist Reem und ihre Eltern nach Israel gefragt? Wer sollte geschützt werden? Die Juden, Israel, die Palästinenser? Oder das Mädchen? Es wäre sicher unverfänglicher gewesen, über komplexe politische Zusammenhänge mit Vater oder Mutter zu sprechen. Reem ist klug genug, auch redegewandt genug, aber sie ist minderjährig und damit besonders schützenwert.
Rechtsstreit um den „Welt“-Artikel
Was die Israelfrage angeht, liegt der Grund für die Tabuisierung eigentlich in der Antwort selbst. Und Rechtsanwalt Schultz hat in einem Eilverfahren vor dem Berliner Landgericht dafür gesorgt, dass jetzt alles richtiger klingt und dass neben dem gedruckten Artikel in der „Welt am Sonntag“ vom 26. Juli eine Gegendarstellung steht, gezeichnet von Reem.
Erstens: „Unwahr ist, dass ich in Bezug auf das Gebiet Palästinas und den Hinweis, da sei Israel, gesagt haben soll: Ja, noch, aber meine Hoffnung ist, dass es irgendwann nicht mehr da ist. Richtig ist vielmehr, dass ich gesagt habe: Es sei mir egal, wie es heiße, ob Israel oder Palästina, wichtig sei, dass irgendwann dort Friede sei und alle drei Weltreligionen in Frieden zusammenleben.“
Der Reporter hatte noch einmal nachgehakt: „Weißt Du, dass Deutschland und Israel eine besondere Beziehung haben? Und dass wir Judenhass nicht zulassen?“
Zweitens: „Unwahr ist, dass ich auf den Hinweis, dass wir Judenhass nicht zulassen, gesagt haben soll: Ja, aber es gibt Meinungsfreiheit, hier darf ich das sagen… ich bin bereit, über alles zu diskutieren. Wahr ist vielmehr, dass ich sinngemäß gefragt wurde, ob ich Juden hasse, worauf ich geantwortet habe: „Nein, ich hasse niemanden.“
Es scheint, als würde der Fall politisch ausgeschlachtet.
„David-Stern = Hakenkreuz“?
Der sich auf seiner Internetseite als „Menschenrechtsanwalt“ bezeichnende Schultz wurde vom Berliner Journalisten Martin Lejeune mit Reem bekannt gemacht. Dieser kannte die Familie Sahwil bereits, wie er selbst sagt.
Lejeune engagiert sich für palästinensische Asylbewerber in Deutschland ebenso wie für die Freilassung palästinensischer Gefangener aus israelischer Haft. Wegen seiner Berichterstattung aus Gaza während des Kriegs im Sommer 2014 wurde ihm in den Medien ein Nähe-Distanz-Problem vorgeworfen. Bis dahin war er gut im Geschäft, hat unter anderem für die Berliner Tageszeitung „taz“ geschrieben, wurde bei einer Demo in der Hauptstadt im August 2014 gegen den Gaza-Krieg als taz-Autor zitiert: Unter den israelischen Angriffen seien gezielte Massaker gegen Männer, Frauen und Kinder gewesen, die nichts mit den Hamas-Kämpfern zu tun hätten, erklärte er. Zuletzt war Lejeune im Juni als Passagier an Bord einer Gaza-Flottille.
Schultz wiederum verteidigt gelegentlich Palästinenser, die mit dem deutschen Gesetz in Konflikt kamen. Das ist zunächst nicht anstößig. Alarmierend ist es, wenn ein Anwalt es „mit der in Deutschland geltenden Meinungsfreiheit“ begründet, dass einer seiner Mandaten, ein Palästinenser, der wie Reem in einem palästinensischen Lager im Libanon groß geworden war, auf einer Anti-Israel-Demo ein Pappschild schwenkt, auf das er „David-Stern = Hakenkreuz“ gemalt hat.
Die Erklärung im Prozess: „Er (der Angeklagte) habe sich mit den Symbolen – dem Hakenkreuz für den Völkermord an den Juden, dem Davidstern für den heutigen israelischen Staat – und dem Appell, nicht wegzuschauen, an die hiesige (deutsche) Öffentlichkeit gewandt; gerade aus der Verantwortung gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus, die schon vor dem Holocaust mit Pogromen und Kriegsverbrechen begonnen hätten.“ Das klingt nach einer wohlfeilen Argumentation, sagt im Prinzip aber nichts, als dass der Davidstern mit dem Hakenkreuz gleichzusetzen sei.
Reem darf wohl in Deutschland bleiben
In einer anderen Sache hat Schultz jahrelang gegen die Ausweisung eines Imams gekämpft, der Hass gegen die USA und Israel gepredigt haben soll. Der Mann habe lediglich die Kriege und das Vorgehen gegen die Palästinenser kritisiert. Im Fall Reem sah Schultz den Aufenthalt der jungen Palästinenserin in Deutschland gefährdet. Inzwischen ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Familie Sahwil ihre Zukunft in Deutschland planen kann.
Der Rostocker Finanz- und Verwaltungssenator Chris Müller sagte im Spiegel, Reem sei „ein Beispiel für gelingende Integration in unserer Hansestadt“. Und zu den Unterzeichnern, die den Spendenaufruf für Prozesskosten und die Öffentlichkeitsarbeit des Anwalts gegen den Springer-Verlag unterstützen, gehört auch Roland Methling, der Oberbürgermeister von Rostock. Die vorläufige Aufenthaltsgenehmigung für Reem und ihren Vater wird halbjährlich verlängert. Eine endgültige Entscheidung wird im Frühjahr 2017 fallen. Bruder und die Mutter sind geduldet, ihnen fehlen noch Unterlagen aus dem Libanon. Die Stadt Rostock sicherte zu: „Damit die Familie zusammenbleiben kann, wird keine Abschiebung stattfinden.“
Im Netz ist der „Welt am Sonntag“-Artikel inzwischen verändert. Die Online-Ausgabe der Story wurde überarbeitet. Zum „Warum“ wollte auf Nachfrage niemand in der Redaktion Stellung nehmen. Lejeune, der auch den Welt-Journalisten mit der Familie bekannt gemacht haben soll, sagte, er habe, als er einmal kurz während der Begegnung das Zimmer betrat, kein Aufzeichnungsgerät gesehen. Er gehe sinngemäß nicht davon aus, dass der Befrager das Gespräch aufgezeichnet habe. Stimmt das so, stünde Aussage gegen Aussage, was auch den Aktionismus im Netz erklären könnte. Im Hinblick auf den Schadenersatz, den Anwalt Schultz fordert, vielleicht eine Möglichkeit, günstiger davon zu kommen.
Zitate im Netz inzwischen gelöscht
Auch das Magazin „Stern“ hat die übernommenen Zitate inzwischen gelöscht. Nur die „Jerusalem Post“ scheint Widerstand zu leisten. Doch Schultz steht bereits vor der Tür. Er will klären, „ob sie auch bereit sind, diese zu entfernen“, schreibt er auf seiner Homepage. Gegen den Springer-Verlag will er zudem Ansprüche auf Entfernung des gesamten Artikels („der ohne die Zustimmung Reems und ohne Wissen der Eltern veröffentlicht wurde“) geltend machen. Reem zitiert er auf seiner Homepage: „Ich war entsetzt, als ich erkennen musste, dass der Journalist und die Zeitung uns offenbar gezielt schlecht machen und als „Antisemiten“ abstempeln wollen“, soll sie gesagt haben.
Der Journalist habe kein Interview geführt mit Reem, sondern gesagt, er wolle sie kennenlernen, sagt Lejeune auf Nachfrage. Nun, mögliche Schadenersatzansprüche, egal welcher Art, wollen begründet werden. So muss der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht von Reem unter anderem rechtswidrig gewesen sein. Rechtsanwalt Schultz, der zu telefonischen Stellungnahmen nicht bereit war, formuliert in einem offiziellen Schreiben: Der Welt-Journalist habe sich „unter dem Vorwand eines persönlichen Gesprächs und eines Fotos für seine Familie ihr Vertrauen erschlichen“.
Flüchtlingsfamilie fordert Schmerzensgeld
Er soll den Eltern auch nicht gesagt haben, dass er einen Artikel mit Zitaten von Reem veröffentlichen wolle, so Lejeune. Es sei keine Autorisierung der Zitate seitens Reem oder der Eltern erfolgt. Sie hätte niemals so etwas behauptet, soll sie zu Lejeune gesagt haben. Als Reem die Berichterstattung wahrgenommen habe, sei sie geschockt gewesen und habe bis Montagabend nichts gegessen. Das könnte für Schmerzensgeld oder eine Geldentschädigung reichen.
Dass Schultz auf Streit gebürstet zu sein scheint, zeigt sich auch im Fall der „Süddeutschen Zeitung“. Hier soll sich ein Redakteur Ende August gegen den Rat des Anwalts und gegen das Einverständnis der Eltern Zugang zur Wohnung von Reem verschafft haben. Der Reporter habe gesagt, er müsse dringend auf die Toilette gehen, so Lejeune. Dies sei eine Erfindung, sagt der Reporter. Er sei vom Vater hereingebeten und auf einen Kaffee eingeladen worden. Lejeune wiederum will „mutmaßliche Zitate“ in dem Artikel gefunden haben, der am 3. September veröffentlicht wurde und nun Aussagen beinhalte, die nicht autorisiert worden seien. Ein Interview mit Reem sei dem Journalisten seitens der Eltern ausdrücklich verwehrt worden, so Lejeune.
Der SZ liegt mittlerweile ein Schreiben von Schultz vor, mit dem ein Unterlassungsanspruch geltend gemacht werden soll. Alternativ wird eine Art Vergleich vorgeschlagen, der unter anderem beinhaltet, dass man zur „Wiedergutmachung“ auch Reem finanziell unterstützen könne. Mit einem Aufruf auf der Anwalts-Homepage sammelt ein Opferverein Geld. Das Geld fließt nicht an Reem, sondern soll für Öffentlichkeitsarbeit und Prozesskosten (dazu zählen auch Anwaltsgebühren) eingesetzt werden.
Über die Beschwerde, die Schultz gegen die „Welt am Sonntag“ beim Presserat eingereicht hat, soll am heutigen Dienstag entschieden werden.
Update 17:40 Uhr: Der Presserat hat die Beschwerde als unbegründet bewertet.
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