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Bildungsföderalismus - „Wir züchten ein Bildungsprekariat“

Sozialarbeiter, Sprachlehrer und Nachmittagskurse - das brauchen Schulen in sozialen Brennpunktschulen. Das Grundgesetz verbietet, dass der Bund diesen Schulen hilft. Der FDP-Politiker und ehemalige Außenminister Klaus Kinkel fordert, das Kooperationsverbot muss fallen.

Autoreninfo

Christian Füller arbeitet als Fachjournalist für Bildung und Lernen im digitalen Zeitalter. Zuletzt erschien sein Buch "Die Revolution missbraucht ihre Kinder: Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen". Er bloggt unter pisa-versteher.com. Foto: Michael Gabel

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Frage: Herr Kinkel, Berlin darf bald bei Investitionen in Bildung helfen. Die Bundesbildungsministerin hat gerade eine Verfassungsänderung vorgeschlagen, die das möglich macht. Sind Sie froh darüber?

Klaus Kinkel: Nein, die Koalitionsverhandlungen in Sachen Bildung sind wirklich kein Meisterwerk.

Was ist schief gelaufen?

Es ist wichtig und gut, dass der Bund die Hochschulen der Länder bald unterstützen darf. Nur hätten wir die Möglichkeit zur Bundeshilfe unbedingt auch bei Schulen gebraucht.

Warum?

Bei den Schulen zwickt es an allen Ecken und Enden – aber der Bund ist im Wesentlichen zum Zuschauen verdammt. Es ist doch verrückt, dass es in einem Industrieland der Bundesregierung untersagt ist, den Ländern da zu helfen, wo die größte Schwachstelle in unserem Bildungssystem ist: Bei den Schulen.

Klingt verrückt, steht aber so in der Verfassung und hat den Namen Kooperationsverbot. Respektieren Sie das Grundgesetz nicht, Herr Kinkel?

Selbstverständlich achte ich die Verfassung. Aber es gibt jetzt in der Großen Koalition die einmalige Chance, dieses Kooperationsverbot in Gänze wieder abzuschaffen. Und das wollen ja auch fast alle. Ich habe eine Liste von Bildungsexperten und Politikern zusammengestellt, die gegen dieses Verbot sind.

Was ist heraus gekommen?

Diese Liste ist 10 Seiten lang – selbst die Bundeskanzlerin findet sich darauf. Auch Frau Merkel will, dass der Bund den Ländern bei Ganztagsschulen hilft. Die ehemalige Bildungsministerin Schavan nennt das Kooperationsverbot sogar einen Crash, 'einen Fehler, den heute nur noch eine Handvoll Politiker wiederholen würden.' Eine erdrückende Mehrheit der Sachkundigen findet es also falsch, dass es dem Bund untersagt ist, Schulen gezielt zu helfen.

Wenn es so sonnenklar ist, dass das Kooperationsverbot weg muss, wieso macht die Koalition das dann nicht ?

Darauf gibt es eine kleine und eine große Antwort. Die kleine lautet, dass sich die Parteichefs von CDU und SPD nicht gegen den Egoismus und die Kurzsichtigkeit einiger Landesfürsten durchsetzen konnten. Die wollen ihre Kulturhoheit für die Schulen ungeteilt behalten.

Und die große Antwort?

Die Bundesländer haben, außer bei Polizei und Bildung, praktisch keine politischen Zuständigkeiten mehr.

Und sie wollen den Ländern die letzte Zuständigkeit stehlen!

Nein, das will ich eben nicht. Der Bund soll die Kulturhoheit nicht bekommen. Es geht einzig und allein ums Helfenkönnen. Berlin soll in dringenden Fällen Mittel bereitstellen dürfen. Ich bin weiß Gott der Letzte, der will, dass der Bund direkt in 40.000 Schulen hineinregiert. Aber die Bundesregierung muss bei den vielen Problemen, die die Schulen haben, helfen können. Es muss möglich sein, die Fragen mit anzupacken, die sich aus der finanziellen Schräglage vieler Länder ergeben. Das ist übrigens auch ein Verfassungsgebot: Der Bund muss sicherstellen, dass die Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse gewahrt bleibt. Die ist gefährdet, wenn die Lernbedingungen so unterschiedlich sind wie heute.

Sie sagen, es zwickt überall an den Schulen. Wo am meisten?

Wir haben in allen Bundesländern so genannte Brennpunktschulen, in denen pädagogisch so gut wie nichts mehr geht. Dort zu helfen, kostet sehr, sehr viel Geld. Wenn Berlin nicht blockiert wäre, könnten wir massiv Bundesmittel an diese Schulen fließen lassen – ohne Umwege. Dann können wir das tun, was die Länder und Kommunen allein nicht schaffen, wie zum Beispiel zusätzliche Pädagogen für Brennpunktschulen. Da muss man auch viel tun, sonst haben die Jugendlichen in diesen Schulen kaum eine Berufschance. Dort sammeln sich vor allem Verlierer.

Was bedeutet das?

Studien zeigen uns, dass sich dort Schulmilieus bilden, in denen Lehrer nicht mehr viel ausrichten können. In den Brennpunktschulen der Stadtstaaten zum Beispiel haben neun von zehn Schülern große Leseprobleme, aber auch in Nordrhein-Westfalen, Saarland oder Hessen gibt es Schulen, in denen viele Schüler diese Probleme haben. In diesen Schulen brauchen wir mehr Lehrer und Schulhelfer, sonst züchten wir uns künstlich eine Art Bildungsprekariat heran.

Aber es gibt doch bundesweit gültige Bildungsstandards für alle Länder.

Leider noch viel zu wenige. Wichtiger aber noch ist, dass die Länder nicht genügend Geld zur Umsetzung haben. Es herrschen große Unterschiede bei den Schulabschlüssen. Alle Versuche, sie auszugleichen, schlugen bisher fehl. 20 Schularten sind einfach zu viel.

Immerhin wird jetzt ein Zentralabitur vorbereitet.

Schauen sie sich dieses Zentralabitur doch mal an! Das wird es zunächst schrittweise für fünf Bundesländer geben – bis zum Jahr 2016. Da lacht doch das letzte Huhn im Stall: Im Jahr 2001 hat uns die erste Pisastudie auch insoweit ein schlechtes Zeugnis ausgestellt – aber erst 15 Jahre später haben wir einigermaßen vergleichbare Abiture. Eltern sind interessiert daran, dass ihre Kinder überall in Deutschland ein gleichwertiges Abitur erringen können. Die interessieren sich doch nicht für Zuständigkeiten!

In Umfragen finden Eltern den Bildungsföderalismus veraltet und überflüssig.

Kein Wunder, wenn wir die Umzugshindernisse und zum Beispiel den technologischen Stand der Schulen betrachten. Acht von zehn Jugendlichen haben heute ein internetfähiges Smartfon in der Hosentasche – aber an den Schulen fehlen die Geräte und die internetaffinen Lehrer, um Schüler auf die digitale Welt vorzubereiten, die die Zukunft bedeutet. Der Standard in deutschen Schulen ist das Computerlabor aus den 1990er Jahren.

Könnte der Staat überhaupt eine solche Riesenaufgabe stemmen?

Bundesgelder jedenfalls könnten mächtig helfen. Natürlich müsste auch die Wirtschaft mittun, aber zuerst einmal sind Bund, Länder und Gemeinden gefragt. Nur, so weit kommen wir in der Debatte doch gar nicht. Jeder deutsche Schüler sollte ein internetfähiges Endgerät bekommen - so stand es anfangs im Koalitionsvertrag. Am Ende war es wieder raus. Ich finde, das ist ein Zeichen der Perspektivlosigkeit: Unsere derzeitige Bildungsverfassung macht es sehr schwierig, Schulen technologisch auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen – weil die Länder dem Bund verbieten, ihnen bei der Digitalisierung der Schulen finanziell zu helfen.

Der Bund hat sich bereit erklärt, bei der Lehrerbildung ein halbe Milliarde Euro bereit zu stellen.

Können Sie mir sagen, wo dieses Geld geblieben ist? Ich weiss es nicht. Die Vorgängerregierung hat mit den Ländern eine moderne Lehrerbildung verabredet. Seit der Koalitionsverhandlung wird kein Wort mehr darüber verloren. Still ruht der See. Dabei sind wir bei der Ausbildung von Lehrern ganz hinten dran.

Was meinen Sie damit?

Viele Grundschüler werden zum Beispiel in Mathematik von Lehrern unterrichtet, die nie eine Vorlesung in Mathe besucht haben. Diesen Lehrern wird ein Buch in die Hand gedrückt und gesagt, 'da los, mach` Mathe!' Ingesamt fehlen uns einige Tausend Lehrer in den so genannten MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften sowie Technik. Hier ist außerdem die Zahl der fachfremd unterrichtenden Lehrer viel zu hoch. Besonders schlimm ist: Die Lehrerbildung läuft an den Hochschulen nur nebenbei mit.

Herr Kinkel, die Klage, dass der Bund den Schulen nicht helfen darf, ist vielleicht berechtigt, sie ist aber vor allem nicht neu. Muss man nicht einfach akzeptieren, dass die Politik sich so entschieden hat?

Nein. Wir dürfen das nicht akzeptieren. Es geht um unsere Zukunft. Wir sind als große Technologie- und Wirtschaftsnation an einem sehr kritischen Punkt angelangt. Um uns herum schläft die Welt nicht, wir verlieren den Anschluss. Andere ziehen an uns vorbei. Und unser Bildungssystem mit seinen Mängeln ist der Hauptgrund dafür.

Herr Kinkel! Deutschland ist technologisch und wirtschaftlich wahrscheinlich sostark wie nie zuvor in seiner Geschichte.

Sprechen Sie mal mit Unternehmen, die vor allem im Mittelstandsbereich technologisch orientiert sind: Die wissen nicht, wo sie ihre Ingenieure, Informatiker und Techniker herbekommen sollen.

Ist die Bildungsrepublik noch steuerbar?

Würde ich mich in den Hubschrauber setzen und auf den föderalen Flickenteppich von oben herabschauen, dann bekäme ich wohl meine Zweifel. Wir leben zum Teil schon von den Errungenschaften der Vergangenheit. Nicht nur Goethe, der deutsche Ingenieur schafft unser Ansehen in der Welt. Wir sind inzwischen aber das Land der Ingenieure, das selbst gar nicht mehr genügend Ingenieure produziert. Man muss ein hochindustrialisiertes Hi-Tech-Land aber rational steuern können. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich hier eine kleinkarierte „Mir-san-mir“-Haltung durchsetzt. Der wegen des Wettbewerbs so gepriesene Bildungsföderalismus, wie wir ihn heute haben, ist nicht erfolgreich und treibt seltsame Blüten. Das ist durch Daten und Fakten bewiesen.

Was für einen Föderalismus haben wir denn dann?

Ich finde, wir haben im Bildungsbereich einen Verzögerungsföderalismus. Es gibt ein dauerndes wohliges Gerede über Bildung, aber keine Debatte, die wirklich mit Relevanz und Schärfe auf die notwendigen Ziele zusteuert. Von der Bundeskanzlerin abwärts reden alle immer nur über die Bildungsrepublik. Aber sie handeln nicht danach. Die Kultusministerkonferenz ähnelt der Echternacher Springprozession. Im Bildungssystem plätschert alles so vor sich hin. Ja, es gibt natürlich auch Fortschritte. Das will ich gar nicht kleinreden. Aber der große Wurf fehlt.

Sie sind Vorsitzender der Telekom-Stiftung. Wenn ihnen Bildungsreformen so wichtig sind, wieso nehmen sie das nicht selbst in die Hand?

Tun wir doch als Telekom-Stiftung, voll konzentriert auf den MINT-Bereich, wo die größten Schwachstellen liegen. Stiftungen können auch nur Anstöße geben, Prototypen entwickeln und versuchen, sie auf die Straße zu bringen. Das heißt, wir tun sehr viel in beispielhaften Projekten, wo man als Stiftung etwas bewegen kann. Bund, Länder und Gemeinden dürfen aber nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden.

Wenn Sie der Kabinettsberater für Bildung wären, wie es ihn in Großbritannien gibt, was würden sie der Kanzlerin vorschlagen?

Ein Satz vorweg: Ich habe als Außen- und Justizminister einfach nicht gesehen, wie groß die Schwachstellen in unserem Bildungssystem sind. Da ärgere ich mich heute über mich selbst. Wenn ich es bewirken könnte, dann würde ich vor allem die Schulen ins Auge fassen. Ich würde versuchen, zu einer Vereinheitlichung in den Schulsystemen und in den Bildungsstandards zu kommen, ohne den Ländern die Bildung wegzunehmen. Und mir wäre natürlich wichtig, dass die beste deutsche Universität beim weltweiten Ranking nicht erst auf Platz 40 auftaucht. Aber am wichtigsten sind nicht Einzelmaßnahmen, sondern eine andere Haltung: Wir brauchen eine gesamtstaatliche Verantwortung. Es muss möglich sein, dass Bund, Länder und Gemeinden so zusammen arbeiten, dass unser Bildungssystem sich bessert. Wir brauchen kein Kooperationsverbot sondern ein Kooperationsgebot – und erheblich mehr Geld im Bildungsbereich. Deutschland liegt mit seinen Investitionen im OECD-Vergleich deutlich unter dem Durchschnitt.

Klaus Kinkel studierte Rechtswissenschaft in Tübingen und Bonn. In seiner politischen Laufbahn war er unter anderem als Stellvertretender Kanzler für die FDP tätig. Heute leitet Klaus Kinkel die Deutsche Telekom Stifung.

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Ernst Ludwig Schüppstuhl | Do., 22. November 2018 - 01:06

Die Länderhoheit über die Bildungspolitik ist noch eine der Ursünden aus der Gründung des Deutschen Reichs 1871. Die Länder definieren ihre Existenzberechtigung in erheblichem Maß durch dieses Recht, das für Schüler, Eltern und Lehrer nichts als ein einziger Hort bildungspolitischen Übels ist. Der oft beschworene Wettbewerb um die besten Bildungssysteme, den dieses Konstrukt bieten soll, ist neudeutsch ein Fake. In der Realität werden vor allem die Kinder bei Umzug in ein anderes Bundesland aus einem Lernsystem in ein davon erheblich divergierendes anderes gezwungen, mit Folgen für den Lernerfolg und auch die Bereitschaft zum Lernen. Selbst Kinder, die in der bisherigen Schule erfolgreich waren, sehen sich oft dann weit hinten, weil das von ihnen Mitgebrachte oft noch nicht benötigt wird, während ihnen anderes, was bereits in ihrer neuen Schule zuvor gelehrt worden ist, fehlt. Wie sollen Kinder mit solchen Erfahrungen motiviert bleiben und erfolgreich sein?