- Katastrophe Altenpflege
Deutschland steuert auf eine Katastrophe in der Pflegebranche zu. Demographischer Wandel, fehlende Kinder, die globale Zerfledderung von Familien stellen die Altenpflege vor schwierige Aufgaben. Von der geplanten Pflegereform ist bisher nicht viel zu sehen.
Eines Tages suchen sich Altenpfleger ihre Kunden aus. Dann werden Patienten, die sich nicht mehr richtig zu benehmen wissen, es schwer haben, jemanden zu finden, der ihnen das Essen warm macht, sie füttert oder die Windeln wechselt. Deutschland befindet sich auf dem Weg in eine Klassengesellschaft, in der nur noch Alte gut versorgt sind, die das nötige Kleingeld haben und in der arme oder schwierige Patienten oder auch jene, die auf einem Dorf fern der nächsten Altenpflegestation wohnen, nicht die nötige Pflege erwarten können. Besonders abwegig ist diese Vorstellung nicht: Im Pflegesektor trifft gerade vieles aufeinander. In einer Zeit der globalen Zerfledderung von Familien, fehlender Kinder, fehlender Gelder, fehlender Solidarität und fehlenden politischen und gesellschaftlichen Konzepten braut sich eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe zusammen.
Zurzeit verrichten fast 900.000 Menschen in der Pflegebranche ihr Tagwerk. Das sind mehr als in der Automobilindustrie. Sie waschen, füttern, pflegen und umsorgen etwa 2,3 Millionen Alte und Hilfsbedürftige. Bis 2050 soll die Zahl der Menschen, die einen Anspruch auf Pflege haben, auf 4,8 Millionen anwachsen, so neueste Berechnungen des Arbeitgeberverbands Pflege.
Das größte Problem liegt dabei auf der Hand: Da ist zunächst der rasante demographische Wandel, den unsere Gesellschaft gerade vollzieht. Viele Alte, wenige Junge – die Alterspyramide dreht sich knirschend auf den Kopf. Haben in den 50er Jahren noch fünf Erwerbstätige für einen Rentner die Beiträge aufgebracht, müssen rein rechnerisch in Zukunft ein oder zwei von ihnen für einen Senioren finanziell aufkommen.
Gleichzeitig geben weitere kleine Feuerherde der Pflegekrise zusätzliche Nahrung: Die Abschaffung des Zivildienstes macht der Branche zu schaffen. Den Heimen fehlen damit nicht nur die dringend benötigten Zivis. Aus diesen für manche Wehrdienstverweigerer zwangsbesetzten Stellen entwuchsen nach einem Jahr Dienst am Menschen immer wieder engagierte junge Männer, die eine Ausbildung in den Pflegeberufen in Betracht zogen. Eine solch günstige Anwerbung wird künftig fehlen.
Dafür muss sie nun selber sorgen: Friedhelm Fiedler ist Mitglied der Geschäftsleitung der Pro-Seniore-Residenzen und weiß von den Schwierigkeiten der Altenpflegeunternehmen, an ausgebildete Pflegefachkräfte zu kommen. Besonders die Fesseln der hiesigen Bürokratie verhinderten die Einstellung dringend benötigter Helfer. Polen, deren dortiger Ausbildung einem Bachelorabschluss gleicht, könnten in Deutschland nicht einfach in einem Heim als Fachkraft angestellt werden. Selbst ihre Top-Ausbildung wird nach hiesigem Recht nicht anerkannt. Selbst nach der Freizügigkeitsregelung seit dem 1. Mai 2011 käme kaum ein Arbeiter nach Deutschland, so Fiedler. Die gingen lieber nach Schweden oder in die Schweiz. Fiedler berichtet von Trägern, die mittlerweile für die eigene Nachwuchsförderung eigens Ausbildungsstätten in Polen oder Indien errichtet hätten.
Für Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), sind es haarsträubende Pläne der Europäischen Union, die das Fass zum Überlaufen bringen. Die EU debattiert darüber, die Zugangsvoraussetzungen für den Beruf des Kranken- und Altenpflegers von zehn auf zwölf Jahre Schulbildung heraufzusetzen. Damit kämen Haupt- und Realschüler nicht mehr als Pfleger infrage. Dabei fehlen schon heute rund 30.000 Pflegekräfte, so Meurer.
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Der Deutsche Bundestag geht mit dem Thema Pflegereform um wie mit vielen Baustellen, die zwar einer Klärung bedürfen, sich aber nicht täglich im Politikbetrieb aufdrängen. Es wird verschleppt. War der Gesundheitsminister Philipp Rösler, FDP, in diesem Frühjahr noch mutig an die Sache herangegangen und hatte ein „Jahr der Pflege“ ausgerufen, ist nun, da Daniel Bahr den Posten übernommen hat, davon keine Rede mehr. Im Sommer wolle er erste Entwürfe vorstellen – bisher sind keine Pläne bekannt geworden. Dann und wann erscheint ein Arbeitspapier zur Diskussion in der Öffentlichkeit. Die kommen aber eher aus der Union. Ansonsten halten sich die Beteiligten – und vor allem der zuständige Minister – vornehm im Hintergrund. Denn die Frage, wie die Problematik angegangen werden soll, birgt einiges an politischem Sprengstoff.
Gerade haben sich die jüngeren Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt. Die Pflegereform müsse dringend noch in dieser Legislaturperiode angegangen werden. Das Ziel: eine Kapitalrücklage für die Pflegeversicherung auf die Beine zu stellen. Horst Seehofer meldete sich in der Wochenzeitung "Die Zeit" mit Vorschlägen zu Wort. Leistungen für Behinderte sollen künftig nicht mehr von der Pflegeversicherung bezahlt, sondern über den Bundeshaushalt vom Steuerzahler finanziert werden. Damit könnte man 250 Millionen Euro einsparen. Es mangelt dann aber immer noch an einem enormen Rest, denn der Pflegeversicherung fehlen 20 Milliarden Euro. Auf der Hand liegen Beitragserhöhungen. Die aber werden von der CSU kategorisch ausgeschlossen.
Auch in der SPD macht sich Unmut breit über den zögerlichen Umgang mit dem deutschen Pflegefall. Malu Dreyer, rheinland-pfälzische Sozialministerin, fungiert nun als Sprecherin der SPD-geführten Bundesländer inklusive dem grün-roten Baden-Württemberg und schlug in ihrem Sinne vor, noch im September eine Sondersitzung der Arbeits- und Sozialminister der Länder zum Thema zu veranstalten. Denn die Pflegepolitik ist – ähnlich der Bildungspolitik – Ländersache. „Katastrophal“ sei das in der Praxis, schimpft Thomas Greiner, Vorsitzender des Arbeitgeberverbands Pflege. So könne es in jedem Bundesland eine Pflegekammer geben, mit der sich die Pflegeunternehmen auseinandersetzen müssten.
So müssen also drei Kernthemen bei der Pflege angepackt werden: die Finanzierung, das Personal und die Effizienz. Dafür braucht es Konzepte zur Sicherung der Pflegeversicherung, zur Ausbildung von Pflegefachkräften, Entbürokratisierung der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und dem Bürokratieabbau im täglichen Pflegealltag. Denn, so Friedhelm Fiedler, 25 bis 30 Prozent der Arbeitszeit in der Pflege würden zurzeit für die Dokumentation der Arbeitsprozesse benötigt. So will es das Gesetz, in der Praxis aber fehlt wichtige Zeit für die Menschen. Um die aber geht es, bei der Bekämpfung der Katastrophe Altenpflege.
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