- Jimmy gibt nicht auf
Sein Traum war es, Abgeordneter des Bundestages zu werden. Der Boom der FDP spülte den Newcomer und Netzpolitiker schließlich nach Berlin. Dort will er nun auch bleiben. Am Samstag stellt die FDP in Bayern ihre Liste zusammen. Für Jimmy Schulz wird es eng, doch er lässt nichts unversucht
In Rottenburg an der Laaber redet sich Jimmy Schulz nah an die Katastrophe heran. Erst kurz nach seiner Ankunft beim Bezirkstag der niederbayerischen FDP hat er realisiert, dass hier von ihm kein schnelles Grußwort erwartet wird, sondern ein 30-Minuten-Auftritt. Er soll über sein Spezialgebiet referieren, das Internet, im Grunde erwarten sie von ihm, dass er die Zukunft an die Laaber bringt. Ein Witztermin ist das hier wirklich nicht, einige dieser Delegierten könnten in wenigen Wochen entscheiden über die Zukunft von Jimmy Schulz, 44 Jahre, Bundestagsabgeordneter aus Hohenbrunn bei München.
Er tippt die Themen an, tastet das Publikum mit den Augen ab, er wirft ihnen Begriffe hin. Netzpolitik? Digitale Aufklärung? Vorratsdatenspeicherung?
An den Tischen im Saal murmeln die Niederbayern, sie bereiten gerade einen Dringlichkeitsantrag vor: die Rettung des Schnupftabaks vor den Eurokraten.
Jimmy Schulz, ein Meter siebzig, macht sich größer hinterm Rednerpult. Schweiß steht ihm auf der Stirn, er fasst sich ans Kinn, zupft sich am Ohr. Verhaspelt sich in Hackerattacken, verirrt sich in Virenzoos, braut ein schreckliches Mischmasch aus Videotheken und IP‑TV.
Der Bezirksvorsitzende saugt an seinem Weißbier, seine kleine Tochter schnattert mit ihrem Plüschstorch, im Hintergrund plärrt ein Senior über Rösler.
Dann, Schulz ist endlich wieder auf seinem Platz im Publikum, geschieht das Wunder. Ein junger Mann geht zum Rednerpult, Christian Neulinger, Kreisvorstand Passauer Land, Gemeinde Pocking. Er hört sich ungefähr so an wie ein mit Tranquilizern vollgepumpter Gerhard Polt. Aber gerade dieses langsame Niederbayerisch verleiht ihm Gewicht, und der ganze Saal hört schlagartig hin, als er anhebt: „Spricht da Jimmy, kant i imma Ja sang.“ Der Schnupftabak, das Weißbier, der Storch, alles verschwindet. „Wir müssen’s richtig machen.“ Zustimmung. Brummeln. „Mit die richtige Leit. Wia brauchan mea Leit wia den!“
Später braust Jimmy Schulz Richtung München. Er wirkt aufgekratzt hinterm Steuer. Beseelt. Der gute Moment eben hat ihn tief eintauchen lassen in diese Welt, die ihn glücklich macht: sein Bundestagsmandat, der Kampf um die Freiheit im Netz, auch seine eigene Bedeutung. Die Politik kann ein Traum sein. „Ich lebe meinen Traum“, sagt er. „Und ich würde das auch machen, wenn ich kein Geld bekäme.“
Aus dem Traum reißen ihn die Zahlen. Fünf Prozent Emnid, vier Prozent Forsa, vier Prozent Infratest. Selbst wenn die FDP 2013 ins Parlament kommt, heißt das nicht, dass Jimmy Schulz drinbleibt.
Es gibt zurzeit viele in seiner Situation. Die FDP hat 93 Abgeordnete im Bundestag, 14,6 Prozent holte sie 2009. Newcomer wie Schulz spülte der Boom einfach nach Berlin. Jetzt, da die FDP abstürzt, kann man an einem wie ihm sehen, wie ein einzelner Politiker herumgeschleudert wird von den großen Bewegungen im Wettbewerb der Parteien. Aber Jimmy Schulz will nicht machtlos sein. Und das kann man ebenfalls von ihm lernen: Was einen Menschen dazu bringt, in dieser aussichtslosen Lage zu kämpfen.
Die Fraktion der FDP lässt sich in drei Gruppen einteilen. Da ist das hintere Drittel. Diese Abgeordneten werden es auf den Landeslisten der FDP nicht auf einen jener vorderen Plätze schaffen, die ins Parlament führen würden. Sie sind raus. Denn die Listen sind im gemischten deutschen Wahlrecht für die Liberalen entscheidend. Direktmandate in den Wahlkreisen holen sie eh nie. Die Listen wählen die Delegierten in den Landesverbänden. Auf die vorderen Plätze kommen die Mächtigen, Minister, Staatssekretäre, Landesvorsitzende, Generalsekretäre, Bezirkschefs. Das ist das zweite Drittel der Fraktion: Wenn es die FDP schafft, schaffen sie es auch. Dann gibt es noch das Drittel dazwischen, es sind Abgeordnete, die sich eine winzige Chance ausrechnen. Ihre Partei müsste sensationelle 7 oder 8 Prozent erreichen, und sie müssten sich irgendwie einen vorderen Platz auf der Landesliste erkämpfen, gleich hinter den Mächtigen, dann wären sie vielleicht doch drin.
Seite 2: Der Traum eines Bundestagsabgeordneten
Um diese Chance kämpft Jimmy Schulz. Deshalb fährt er am Wochenende quer durch Bayern auf Parteiversammlungen, drückt die Halsschmerzen mit Pastillen weg, schüttelt Hände, legt im Foyer gelbe Feuerzeuge mit seinem Namen aus, erklärt den Parteifreunden die Piraten, das Urheberrecht oder die neue Beteiligungssoftware der Liberalen. Er telefoniert rum, verhandelt mit Kreisvorständen, isst mit ihnen Hirschgulasch, statt den Samstagabend bei seiner Familie zu sein. Er wirkt nie unglücklich dabei. Selbst in Berlin, wenn er seine Zeit in Termine zerhackt, hat dieser Mann einen gelösten, zufriedenen Zug um die Augen. Er lebt ja seinen Traum, er will auf keinen Fall aufwachen. Man muss sich seine Geschichte anschauen, um zu verstehen warum.
Jimmy Schulz wächst in Ottobrunn im Münchner Speckgürtel auf. Der Vater arbeitet an der Bundeswehruniversität, die Mutter ist Ärztin. In der siebten Klasse wird am Gymnasium Informatik angeboten. Die Aufgaben faszinieren ihn, er kann aber nur auf Papier daran arbeiten, Anfang der Achtziger hat niemand einen Rechner zu Hause. Deshalb nimmt er an den Nachmittagen die S-Bahn nach München, im Kaufhaus am Marienplatz fährt er in die Elektronikabteilung hoch und stellt sich in die Schlange. Dann hat er immer zehn Minuten am Vorführcomputer, einem Commodore 64. Er wünscht sich ein eigenes Gerät, aber 1000 Mark, das wollen seine Eltern nicht ausgeben. Mit 16 bekommt er einen C16 von Aldi, auf dem er versucht, Matheaufgaben zu lösen. Für den Englischunterricht programmiert er einen Vokabeltrainer. Er sagt, dass er eigentlich faul gewesen ist, die Siebte musste er wiederholen, die Elfte auch. Aber Neugier treibt ihn. Technik kann ein grenzenloses Spiel sein, er verliert sich darin.
Er hat die Entstehung der Netzwelt von Grund auf erfahren, er hat das Neue ausgekostet, durchdacht, sogar mitentwickelt. Eigentlich ideal für so eine FDP, die sich behaupten muss in dieser Zeit mit den neuen Themen, neuen Mechanismen und neuen Mitbewerbern. Er hat ein Gefühl für Momente, 2010 hat er die erste Bundestagsrede mit Notizen vom iPad gehalten.
Als er noch Schüler ist, kauft sich seine Mutter einen PC für ihre Arztpraxis. Wenn der Rechner hochfährt, blinkt nur ein Pfeil, die passende Software wäre sehr teuer. Jimmy hilft. Datenverwaltung, Textverarbeitung, Druckertreiber, er macht das gern. Seine Mutter ist so froh, dass er sich einen Computer aussuchen darf. Er freut sich heute noch, wenn er darüber spricht, wie er ein günstiges Gerät kaufen wollte. Und die Mutter sagte: „Welchen hättest du wirklich gern?“ Es wird ein Amiga 2000. Mit Farbmonitor! Mit Maus!
Im Frühjahr 1989, die Familie macht Urlaub in Kitzbühel, geht eine Lawine ab. Die Mutter stirbt.
Jimmy Schulz sagt, dass ihn das verändert habe. Er musste sich um seine kleine Schwester kümmern. Er musste das Abitur schaffen. Im Sommer 1989 unternahm er noch etwas: Er trat den Republikanern bei, den Rechtspopulisten. Er sagt, das sei die einzige Partei gewesen, die die deutsche Einheit damals gewollt hätte, und seine Mutter war einst aus der DDR geflüchtet. Die Ausländerhetze habe er erst langsam registriert, ein Jahr später trat er aus.
Er bestand das Abi. Danach ging er zu den Gebirgsjägern, fuhr Snowboardrennen mit, begann ein Politikstudium, jobbte bei einer Computerzeitschrift. Das Jonglieren mit vielen Dingen liegt ihm, aber wenn Jimmy Schulz erzählt, hat man den Eindruck, dass nach dem Tod der Mutter zu seiner wuseligen Begeisterungsfähigkeit der Wille gekommen ist, die Dinge durchzuziehen. Als wollte er sich die Kontrolle über das Leben wieder erkämpfen. Vielleicht ist das ja so: Dass Kämpfer in der Politik ein existenzielles Erlebnis durchgemacht haben.
Seite 3: Seine Internetfirma machte ihn noch als Student zum Millionär
Noch während des Studiums hat er mit Freunden eine Firma gegründet. CyberSolutions, cys.de, sie haben alles angeboten, was mit dem entstehenden Netzwerk zusammenhing, das heute Internet heißt. Einige Kunden hatten ihre Mailadresse bei CyberSolutions, um modern auszuschauen, und die Mail faxten Jimmy und seine Leute ihnen dann zu. Sie entwickelten ein Analysetool namens Big Brother, das den Datenfluss beobachtete, sodass man Leistungen abrechnen konnte. Da ging es richtig los: Große Kunden meldeten sich, er arbeitete 100 Stunden die Woche, das Geschäft boomte. Investoren kauften sich die Firma und gliederten sie in ein größeres Unternehmen namens Telesens ein. Jimmy Schulz blieb Geschäftsführer und bekam Anteile. Die Firma wuchs, sie zogen in neue Räume. Börsengang 2000, Party in Köln, gleichzeitig Studienabschluss, Party in München, die Aktie zwischen 33 und 38 Euro, Party auf der Cebit, Millionär, die Aktie über 60 Euro. Dann ging es abwärts, die Investoren sparten, sie drängten ihn aus der Firma. Seine Anteile durfte er erst verkaufen, als er mehrere Millionen Euro verloren hatte. Die Telesens ging pleite.
Nach dem Ausstieg aus der Firma hat er erst einmal durchgeatmet. Er hatte noch genug Geld, auch wenn er seine Firma verloren hatte. Er kümmerte sich um seinen Sohn und nahm Beratungsaufträge an. Und er interessierte sich für die FDP, die damals in Bayern ein außerparlamentarischer Winzling war. Er setzte auf sie, besuchte Parteistammtische, es ging oft um Otto Schilys Überwachungsgesetze. 2002 zog er in den Gemeinderat von Hohenbrunn ein, kam in den Bezirksvorstand. Dann wuchs und wuchs die FDP wie vorher die Internetblase.
Und Jimmy Schulz wurde Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Ein Traum, fast ein Rausch. In Berlin rast er durch die Verbindungsgänge zwischen den Parlamentsgebäuden wie eine kräftige kleine Lok. Unter der Wilhelmstraße durch, unter der Dorotheenstraße, iPhone am Gürtel, Cola light in der Hand, Laptoptasche über der Schulter. Zurück ins Büro, er lässt sich in den Drehstuhl fallen, sein Blick flirrt durch den Raum, zum iPhone, zum Computer, zum Laptop, zum Telefon. Die Mitarbeiterin schaut rein, ob sie was von Feinkost Lindner holen soll, du musst was essen, Jimmy. Nur 150 Gramm von den Flusskrebsen, wir machen Trennkost, nein 200 Gramm. Helmut Markwort ruft noch an, und nachher muss er zur Vodafone Night, rauskriegen, wie er verhindert, dass in die internationalen Internetverträge in Dubai Quatsch reinkommt. Ein bisschen wichtigtuerisch wirkt er schon, aber die Blogger nehmen ihn ernst und die arrivierten Politiker holen sich Rat.
Aber was zählt das in Bayern? Am 17. November stellt dort die FDP ihre Liste zusammen. Wenn sie es überhaupt in den Bundestag schafft, bedeutet jeder Prozentpunkt ungefähr ein Berlinticket. Zum Beispiel wären 6 Prozent sechs sichere Plätze in Bayern. Die Landesvorsitzende Leutheusser-Schnarrenberger, der niederbayerische Staatssekretär, der Bezirkschef Oberbayern, die bayerisch-schwäbische Generalsekretärin, dann wären mal die Franken dran, die Jungliberalen hätten auch einen Kandidaten und den Meierhofer aus der Oberpfalz, den gibt’s ja a no. Und den Jimmy.
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