() Hans Modrow und Helmut Kohl eröffnen die Brandenburger Tor wieder.
"Ich war kein Held"
Was war das für ein Politbüro, das vom 8.November bis 3. Dezember 1989 amtierte?
Am Morgen des 8. November hat Egon Krenz ein Politbüro vorgeschlagen, mit dem er beim Zentralkomitee der SED nicht durchkam. Das zeigt, wie er der Entwicklung hinterhergerannt ist. Das Politbüro stand dann ja erst am 10. November.
Welche Macht hatte dieses Politbüro überhaupt noch?
Es waren zu dieser Zeit zwei Millionen Mitglieder in der SED, dort hatte es noch Macht. Aber Beschlüsse des Politbüros waren nicht mehr gleichzusetzen mit Beschlüssen der Regierung. Anfangs hat Egon Krenz noch an den Beratungen der Regierung teilgenommen, später nicht mehr.
Am 1. Dezember nahm die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit waren Sie als Vorsitzender des Ministerrates erster Mann im Staate – und nicht mehr Egon Krenz. War und ist er wütend auf Sie?
Das müssen Sie Egon Krenz fragen, eine Debatte darüber läuft zwischen uns beiden nicht.
Aber bis Honecker hatte der Generalsekretär der SED das Sagen. Wie haben Sie es geschafft, Egon Krenz zu entthronen?
Ich habe ihn nicht entthront, das hat er selbst getan. Bereits am 18. Oktober hielt er im Fernsehen die gleiche Rede wie auf der Tagung des ZK, in der er die notwendige Abwahl Erich Honeckers formulierte. Damit konnte er sich doch nicht den Bürgern des Landes zeigen. Wer Landesvater werden will, muss sich auch als solcher darstellen.
Bedauern Sie, dass Sie bestimmte Vorhaben als Ministerpräsident nicht durchgesetzt haben?
Ich habe versucht, die Eigenständigkeit der DDR zu bewahren, unter Lothar de Maizière ging es nur noch um die Übergabe der DDR an die Bundesrepublik. Es ging nur noch darum, die Interessen der Bundesrepublik zu wahren, die der Bürger der DDR gerieten immer mehr in den Hintergrund.
Während meiner Regierungszeit brauchten wir leider zu viel Zeit, um Gesetze zu schaffen, die DDR-Bürger in Rechte versetzten. Es hätte eine klare Entscheidung getroffen werden müssen über das, was juristisch verfolgt wird und was nicht. Die Prozesse gegen ehemalige Mitglieder des Politbüros und gegen so genannte Mauerschützen halte ich nicht für völkerrechtlich gedeckt.
Aber die politische Führung hat doch die Mauertoten billigend in Kauf genommen?
Die Verantwortung für die Toten tragen die Verantwortlichen auf beiden Seiten. Nach der KSZE-Konferenz 1975 in Helsinki bestand im geteilten Deutschland die Chance, aus der Konfrontation in die Kooperation zu gehen.
Die BRD hätte sich also von der Nato, die DDR vom Warschauer Pakt verabschieden sollen?
Beide Staaten hätten sich bewegen können. Das ist nicht passiert, daher gebe ich der BRD eine Mitschuld an der innerdeutschen Grenze.
Sie sagten einmal über sich selbst: „Ich bin die Fleisch gewordene Erinnerung an die DDR.“ Wie haben Sie das gemeint?
Manchmal werde ich auf der Straße oder in der U-Bahn angesprochen. Da heißt es dann zum Beispiel: „Vielen Dank, Sie haben noch ein Gesetz gemacht, ohne das ich nicht mehr in meinem Haus wäre.“ Meine Regierung hatte ja entschieden, dass die Enteignungen von Grundstücken zwischen 1945 und 1949 rechtens waren und bleiben.
Oder nehmen Sie mein Buch „Ich wollte ein neues Deutschland“. Ich habe viele Briefe bekommen, in denen es heißt: „Ich finde in Ihrer Biografie mein eigenes Leben wieder.“ Obwohl ich zu den Privilegierten gehörte, war mein Leben in der DDR nicht so außergewöhnlich. Die Möglichkeit, eine Hochschulausbildung zu bekommen, einen gesicherten Beruf zu haben, in die Politik zu gehen – das war meiner Generation einfach Lebensgewohnheit geworden.
Stört es Sie, dass die DDR in Filmen wie „Good bye, Lenin“ und „NVA“ verulkt wird?
Das finde ich verletzend, weil diese Filme Episoden herausziehen, die es zum Teil sogar gegeben haben mag. Aber wenn ich beispielsweise die Bundeswehr allein auf Grund von Randerscheinungen beurteilen würde, wäre das eine Naziarmee. Ich akzeptiere und respektiere einen kritischen Umgang mit uns. Aber es gab eben nicht nur Feiglinge. Im Sommer 1989 hat Gerhard Schürer im Politbüro Erich Honecker eine Einschätzung über die Schuldenlast der DDR vorgelegt, dafür brauchte er auch ein Stück Mut.
Das nehme ich auch für mich in Anspruch. Ich habe im Januar 1989 meinem Generalsekretär einen Bericht geschrieben, der ihm so wenig gefallen hat, dass ich gleich ins Politbüro geholt wurde und Günter Mittag mit 100 Leuten meinen Bezirk überprüft hat. Da war ich kein Held, aber ich war auch nicht feige.
Wenn Sie an die DDR denken, was vermissen Sie dann heute?
Miteinander zu leben, auch füreinander da zu sein. Ein Beispiel: Als im Winter der erste Schnee fiel, sagte jemand zu mir: „Früher hätten die Männer den Schnee weggeschippt, die Frauen heißen Tee gemacht, und dazu hätten wir einen Wodka getrunken. Und jetzt? Guck dir mal an, wie chaotisch es aussieht.“ Früher war es beispielsweise auch selbstverständlich, ein anderes Kind aus dem Kindergarten mitzunehmen, wenn man selbst keine Zeit hatte.
Als in den neunziger Jahren publik wurde, wie dicht das Netz der Stasi war, hat Sie das überrascht?
Ich habe ehemaligen Mitarbeitern der Stasi, die ich traf, wiederholt gesagt: „Ich habe nie geahnt, welchen Mist Sie aufgeschrieben haben.“ Kerstin Kaiser beispielsweise, die heute die PDS-Fraktion in Brandenburg leitet, hat in Leningrad studiert. In ihrer Akte ist ein Vermerk, dass ihre Kommilitonin Sowieso – obwohl es erwartet wurde – keinen Büstenhalter trug und sich die sowjetischen Studentinnen geärgert hätten. Wozu wurde denn so was aufgeschrieben? Die Berge, von denen uns Frau Birthler erzählt, sind eigentlich Harmlosigkeiten.
War die DDR für Sie eine Diktatur oder eine Demokratie?
Sie ist für mich der Versuch einer sozialistischen Entwicklung, in der auch Demokratie mit Einschränkungen wirksam war. Selbst Juristen kommen nicht daran vorbei, dass Gesetze geschrieben wurden, die jeder begriff. Die Arbeitsgesetzgebung fand international Anerkennung. Auf der anderen Seite gab es Eingriffe in Vorgänge, die nie meine Sache waren – wenn beispielsweise die Justiz bei Ulbricht angefragt hat, ob ein Urteil so laufen könne.
War dann die DDR eine eingeschränkte Demokratie mit diktatorischen Zügen?
Was sind diktatorische Züge? Ich erlebe in der Bundesrepublik auch Handlungen, die diktatorisch sind. Als vor vier Jahren in München die Sicherheitskonferenz tagte, wurden Demonstranten eingekesselt, das war nicht gerade demokratisch.
Sie sind Ehrenvorsitzender der PDS, doch manche Reformer in Ihrer Partei sehen Sie eher als politische Altlast.
Das sagt mir keiner direkt ins Gesicht. Die Reformer glauben, dass es reicht, wenn man diesen Kapitalismus etwas sozialer macht. Sie fühlen sich wohl, ihnen reichen kleine Schritte und Veränderungen. Mir nicht.
Sie leben heute als einfacher Bürger in einer Plattenbauwohnung.
Auch als Ministerpräsident der DDR bin ich in kein Haus gezogen. Mein Motto war schon immer: Binde dich nicht an Schätze, die du bei ihrem Verlust nur vermissen würdest. Im Übrigen war es in der DDR ja auch nicht so, dass Politiker Reichtümer sammeln konnten. Die Häuser in Wandlitz waren nicht das Eigentum der Bewohner, und sie hatten 350 Mark Miete zu bezahlen. Honecker hätte in der DDR eine viel geringere Rente bekommen als heute ein Kanzler.
Vor zweieinhalb Jahren starb Ihre Frau, in Ihrer Todesanzeige wird sie als Genossin bezeichnet.
Das hatte ich mit unseren beiden Töchtern so abgesprochen. Denn ein Genosse ist für mich ein Freund, auf den ich mich verlassen kann – in jeder Situation und zu jeder Zeit.
Das Gespräch führte Dirk von Nayhauss
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