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SPD-Phantom - „Ich bin nicht kleinlich, sondern real“

Er ist das Phantom des Deutschen Bundestages: Jakob Maria Mierscheid. Mit Cicero Online spricht er exklusiv über sein 34-jähriges politisches Wirken und über 150 Jahre SPD

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Er ist mehr Idee denn Wirklichkeit. Manche sagen, es gibt ihn nicht. Für andere ist er der Prototyp des Hinterbänklers: Jakob Maria Mierscheid. Brücken, Wege, Gesetze sind nach ihm benannt. Gesehen hat ihn aber bisher noch niemand. Auch das Bild, das von ihm im Netz kursiert, halten nicht wenige für eine Fälschung, hat der darauf abgebildete doch sehr große Ähnlichkeit mit einem anderen Phantom: Karl Reinseier. Mythen ranken sich um diesen Mierscheid, dieses SPD-Urgestein. Er findet sich in zahlreichen Personenverzeichnissen, sogar in offiziellen Veröffentlichungen des Deutschen Bundestages wieder. Angeblich gehöre Mierschied dem Bundestag seit dem 11. Dezember 1979 an. Am 1. März 1933 in Morbach/Hunsrück soll er zur Welt gekommen sein. Katholisch, verwitwet, Vater von vier Kindern, Mitglied der SPD, Mitglied der Gewerkschaft Landwirtschaft und Forsten und des Kleintierzüchtervereins Morbach. Zum 150. Geburtstag der SPD haben wir uns auf die Suche gemacht. Denn wer könnte mehr erzählen über die Sozialdemokratie als eben jener Mierscheid, der dienstälteste Bundestagsabgeordnete. Die Suche gestaltete sich entsprechend schwierig. Doch dann endlich, ein Lebenszeichen. Mierscheid meldet sich. Kein Zweifel. Er existiert. Auf dem Papier zumindest. Und ist ganz sicher die authentischste Fiktion im Berliner Politbetrieb.

 

Herr Mierscheid, über Sie heißt es, Sie hätten sich in der Politik durchaus verdient gemacht, gesehen habe Sie in den 34 Jahren aber niemand. Wie fühlt sich das an, so eine Schwersichtbarkeit?
Ich fühle mich weder kurz-, noch weit- noch schwersichtig. Glaube mehr einen klaren Blick zu haben und wer mich nicht sieht, guckt nicht genau genug, mit einem vom Werbefernsehen geprägten Drei-Sekunden-Spot-Blick bin ich natürlich nicht zu fassen. Da ist schon ein bisschen Aufmerksamkeit nötig.

Inwiefern können Sie heutigen Politikern als Vorbild dienen, bei denen es sich mitunter genau anders herum verhält? Also jenen, die viel gesehen werden, aber inhaltlich wenig strahlen. 
Solchen diene ich ja wohl nicht als Vorbild, komische Frage, das will ich ja auch gar nicht, im Gegenteil, außerdem gibt es ja noch andere. Nicht nur mich. Ob ich denen ein Vorbild bin, müssen die selbst sagen.

Sie saßen bereits mit Wehner, Schmidt und anderen im Bundestag, sind dienstältester Abgeordneter. Wollten Sie denn nie etwas anderes machen?
Eigentlich schon immer, aber die Politik hat mich nicht losgelassen, es gibt zu viele Probleme, um die ich mich kümmern muss, man fragt mich und dann verweigere ich mich nicht. Irgendwie wird das auch anerkannt, denn ich kriege nie eine Gegenstimme. Bei keiner Wahl. Und in Morbach und zwischen Morbach und Merscheid, in meiner hunsrückischen Heimat ist sogar jetzt ein Wanderweg nach mir benannt worden. Da kann jeder auf meinen Spuren wandeln..

Auch die Brücke am Paul-Löbe-Haus beim Reichstag ist gemeinhin als Mierscheid-Steg bekannt. Und als Autor sind Sie in Erscheinung getreten: 1968 erschien die vierteilige Folge im Zentralorgan der Brieftaubenzüchter: "Die Reiseroute der geringelten Haubentaube und ihre Flugeigenschaften". Sind weitere Publikationen geplant?
Warten Sie mal ab. Und bis dahin schauen sie nach, unter www.Bundestag.de, dann unter Abgeordnete, da finden sie rechts unten Mierscheid und ganz viele Texte, Erklärungen, Erläuterungen, Klarstellungen und andere Dinge zur Lage der Nation und der Welt. Man hat mich da als virtuell bezeichnet, na ja. Ich bin nicht kleinlich, sondern real.

Sie genießen hohes Ansehen in Partei und Parlament. Zum 80. gratulierte Ihnen die erste Reihe der Politik: Steinmeier, Müntefering, Lammert würdigten Sie in den höchsten Tönen – trotz ständiger Abwesenheit. Haben Sie nie daran gedacht, einmal das Hinterbänklerdasein aufzugeben, in die erste Reihe einzutreten, evtl. einen Ministerposten anzustreben?
Mein altes Modell: keine Hierarchien, rundes Parlament, alle in die erste Reihe. Dann wär ich dabei.

Sie waren und sind ein unbequemer und im Besonderen unberechenbarer Geist, erhielten seinerzeit vom damaligen SPD-Fraktionschef Franz Müntefering eine Abmahnung, nachdem Sie Ulla Schmidt als Unwort des Jahres vorgeschlagen hatten.
Franz M. hat Jakob M. nicht abgemahnt, das hat er höchstens mit Angela M. (wissen Sie, wen ich meine?) gemacht. Zu Recht. Probleme klären Franz M. und ich unter vier Augen.

Wie kein Zweiter kennen Sie die SPD. Warum ist die Sozialdemokratie nach 150 Jahren noch zeitgemäß?
Weil die Sozialdemokratie ganz viel erreicht hat, aber noch nicht alles das was sie wollte und will. Und weil immer ständig neue Fragen und Probleme auftauchen, die weder Liberale noch Konservative oder der Markt, der schon gar nicht, vernünftig, sozial und gerecht lösen können.

Hat Angela Merkel die SPD nicht auch ein bisschen überflüssig gemacht? In ihr scheint mehr Sozialdemokratie zu stecken als seinerzeit in Basta-Kanzler Gerhard Schröder.
Nee, noch nicht einmal bei oberflächlicher Betrachtung. Den Brioni-Mantel hat er doch nur einmal angehabt. Und wenn Frau Merkel uns kopiert, dann zeigt das Ansätze von Vernunft, macht sie aber nicht zum Original.

Laut des nach ihnen benannten Mierscheid-Gesetzes ist das Wahlergebnis der SPD an die Stahlproduktion in Westdeutschland gekoppelt. Die Rohstahlproduktion in den alten Ländern lag 2012 bei ca. 36 Millionen Tonnen. In diesem Jahr wird sie mindestens auf gleichem Niveau liegen. Hieße das 36 Prozent für die SPD im September?

Der Trend ist entscheidend: Es wird für die SPD am 22.9. klar und deutlich bergauf gehen, so wie die Stahlproduktion gegenüber dem Stand von 2009.

Anders gefragt: Ist Peer Steinbrück im September für das dann wahrscheinliche Einbrechen der Stahlproduktion verantwortlich?
Falsche Frage mit falscher Voraussetzung, übersteigt selbst meine Antwortfähigkeit.

Sie sagten einmal: „Man sagt, es sei schön, dass es mich gibt, aber schlimm, dass es mich geben muss.“ Wie sieht eine Welt aus, in der es keinen Mierscheid geben muss?
Einfach zu beantworten: Wenn sie aus lauter Mierscheids besteht. Dann braucht es mich nicht mehr.

Herr Mierscheid, vielen Dank!

Die Fragen stellte Timo Stein

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