- Die Türken-raus-Pläne waren gar nicht so geheim
Ein geheimes Protokoll enthüllt, dass Bundeskanzler Helmut Kohl vor drei Jahrzehnten die Hälfte der in Deutschland lebenden Türken zurück in ihre Heimat schicken wollte. Nur: So geheim waren die Pläne gar nicht
Es klingt wie eine Forderung aus einer anderen Republik und inzwischen wären solche Pläne wohl ein Fall für den Verfassungsschutz. „Helmut Kohl wollte offenbar jeden zweiten Türken loswerden“, so schrieb in der vergangenen Woche Spiegel Online mit Berufung auf ein Geheimprotokoll der britischen Regierung.
Viele jüngere Deutsche und viele Journalisten reiben sich verwundert die Augen. Von Aussagen, die man so noch nie gehört, nie gelesen, kaum für denkbar gehalten hat, schreibt Zeit Online.
Doch die Forderung „Türken raus“ gehörte vor 30 Jahren nicht nur zu den politischen Plänen von CDU und CSU, sie stieß auch auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Unter anderem mit dem Versprechen, die Zahl der Ausländer in Deutschland drastisch zu reduzieren, hatte Kohl zudem die Bundestagswahl im März 1983 gewonnen. Die Zeilen, die der Privatsekretär der britischen Premierministerin Margret Thatcher nach einer Begegnung mit Kohl am 28.10.1982 notierte, sind keine Enthüllung, sondern vor allem ein Dokument der Zeitgeschichte.
Eindringlicher lässt sich nicht belegen, wie fundamental sich der gesellschaftliche Konsens in Deutschland seitdem gewandelt hat.
Die Fehler, die in den 1970er und 1980er Jahren in der Einwanderungspolitik gemacht wurden, wirken bis heute nach. Und wenn die Union mittlerweile die grüne Multikulti-Ideologie für massive Integrationsprobleme verantwortlich macht, über die mangelnde Integrationsbereitschaft vor allem unter Muslime und über die Parallelgesellschaften in Großstädten klagt, dann muss sie sich wohl vor allem auch an die eigene Nase fassen.
Kohl wollte die Türken nicht integrieren. Kohl wollte, kaum war er am 1. Oktober 1982 mithilfe der FDP und mithilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums an die Macht gelangt, handeln. „Über die nächsten vier Jahre werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren“, so hatte es Kohl vier Wochen nach seiner Wahl gegenüber der britischen Premierministerin Margret Thatcher offenbart. „Deutschland habe kein Problem mit den Portugiesen, den Italienern, selbst den Südostasiaten, weil diese Gemeinschaften sich gut integrierten“, so zitiert Thatchers Privatsekretär Coles den Kanzler. „Aber die Türken kämen aus einer sehr andersartigen Kultur.“
Nicht nur die Union, sondern auch die SPD warnte Anfang der achtziger Jahre vor dem weiteren Zuzug von Türken nach Deutschland: Für Sozialdemokraten war die „Belastungsgrenze überschritten“. Bundeskanzler Helmut Schmidt machte sich 1981 Sorgen darum, wie lange die Bundesrepublik noch mit den Folgen der Zuwanderung aus der Türkei fertig werden könne und erklärte im Februar 1982 in einem Zeit-Interview: „Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze.“
Ihre Pläne zur Rückführung von Türken und anderen Ausländern, „die nicht zu assimilieren sind“, bereitete die Union damals nicht geheim vor, sondern in aller Öffentlichkeit.
Bonn, 4. Februar 1982. Noch regiert in der Bundesrepublik die sozialliberale Koalition, auf der Tagesordnung des Bundestages steht ein Antrag der Fraktion von CDU und CSU zur Ausländerpolitik. In dem Antrag der Opposition (BT-Drucksache 9/1288) heißt es nicht nur, dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei. Es heißt dort auch, dass die „Rückkehrfähigkeit“ und die „Rückkehrbereitschaft“ der Ausländer gestärkt werden müsse. „In Zusammenhang mit den Herkunftsländern sind Programme zu entwickeln und durchzusetzen, um Ausländern die Rückkehr in ihre Heimatländer zu erleichtern“.
Das Wort zur Begründung der Unionspläne ergreift der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger. Der Kohl-Vertraute, der im Herbst 1982 Fraktionsvorsitzender wird, lässt keinen Zweifel daran, um welche Ausländer es bei den Rückführungsplänen seiner Partei geht: um die Türken. (Plenarprotokoll 9/83)
Vier Ausländergruppen hatte Dregger im Jahr 1982 in Deutschland ausgemacht: Menschen aus Südtirol, Österreich oder der Schweiz würden, weil sie in der deutschen Sprache und Kultur zuhause sind, „keine Integrationsprobleme“ verursachen. Die zweite Gruppe von Ausländern entstamme dem europäischen Kulturkreis und es sei möglich, diese „schließlich zu assimilieren“. Zudem genössen diese in der Europäischen Gemeinschaft „das Recht der Freizügigkeit“.
Die Türken hingegen seien in die christlich abendländische Kultur „nicht nur nicht zu assimilieren, sie sind auch nur schwer zu integrieren“, so Dregger weiter, und er verweist in diesem Zusammenhang auf die andere Mentalität, die andere Hochkultur und die andere Religion. Die vierte Gruppe seien Menschen aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Auch sie würden „nicht lösbare Integrationsprobleme aufwerfen“. Und so kommt Alfred Dregger schließlich zu dem Schluss: „Wer wünscht, dass unser Land für Ausländer auch in Zukunft offenbleibt, [...] muss fordern, dass die Rückkehr der Ausländer in die Heimat die Regel ist.“
Sekundiert wird er in der Bundestagsdebatte von Carl-Dieter Spranger. Der CSU-Politiker nennt es „schlichtweg irreal“, über fünf Millionen Ausländer in Deutschland zu assimilieren. Wer von Integration rede, hänge „humanitätsseligen Träumen“ nach, vielmehr müsse man „das Mengenproblem lösen“. Spranger wird nach der Wende im Herbst 1982 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium.
Die Deutschen fremdelten vor 30 Jahren mit den südeuropäischen Arbeitsemigranten, die seit der Unterzeichnung der ersten Anwerbeabkommen im Jahr 1961 ins Land gekommen waren. 4,6 Millionen Ausländer lebten 1982 in der alten Bundesrepublik, darunter etwa 1,5 Millionen Türken. Die sogenannten Gastarbeiter, die ursprünglich immer nur für zwei Jahre kommen und nach einem Rotationsprinzip ersetzt werden sollten, waren geblieben.
Weder der 1973 verhängte Anwerbestopp noch die Massenarbeitslosigkeit verhinderten, dass weitere Arbeitskräfte und deren Familienangehörige nach Deutschland kamen. Die Probleme der Einwanderung waren der alten Bundesrepublik über den Kopf gewachsen. Kaum jemand kümmerte sich um den Alltag der Arbeitsimmigranten, die meisten von ihnen waren auf sich allein gestellt. Die Erkenntnis, dass man Zuwanderung steuern und gestalten kann, war der Politik in den 1980er Jahren weitgehend fremd.
Die Lösung des Mengenproblems ging die Regierung Kohl nach der vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983 im Übrigen auf ihre Art an: mit finanziellen Anreizen für Türken, aber auch Tunesiern, Marokkanern und Portugiesen. Am 10. November 1983 verabschiedeten Union und FDP das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern. Es bot den Gastarbeitern Geld, wenn sie freiwillig in ihre Heimatländer zurückkehren. Das Gesetz floppte: Nur jene Gastarbeiter, die bereits auf gepackten Koffern saßen, griffen zu.
Drei Jahrzehnte später kommt CDU und CSU das Wort Einwanderungsland zwar immer noch nicht über die Lippen, obwohl mittlerweile rund 15 Millionen Immigranten und deren Nachkommen in Deutschland leben. Aber in ihrem aktuellem Wahlprogramm fordern CDU und CSU ganz weltoffen eine „Willkommenskultur“ gegenüber Zuwanderern. „Deutschland ist ein erfolgreiches Integrationsland. Wer unsere gemeinsamen Werte teilt, wer mit anpackt und unser Land voranbringen will, ist uns willkommen“, heißt es dort. Und die „ganz überwiegende Mehrheit“ der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte leiste „einen bedeutenden Beitrag zum Wohlstand und zur kulturellen Vielfalt unseres Landes.“
Von Kohls „Türken raus“-Plänen zur Willkommenskultur war es ein weiter Weg.
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