- Basisdemokratie geht anders
Während die Grünen ihre zwei Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013 noch suchen, glauben sie, die Basisdemokratie schon gefunden zu haben: mit dem Format „Urwahl“. Das begünstigt aber nur wieder die alten Eliten. Und so richtig ernst nimmt es auch niemand
Die Grünen experimentieren gerade mit ihrer Basis. Seit knapp drei Wochen stellen sich 15 Bewerber für eins der beiden Vorstandsämter den Mitgliedern vor – in Hannover, Berlin, Leipzig, Bochum, Frankfurt am Main, München. Und im Internet. Fünf weitere Orte folgen bis Monatsende. Das Ganze nennt sich dann Urwahl – und soll Basisdemokratie sein. Zwar ist „Basis“ in diesem Begriff auch grammatikalisch das Bestimmungswort, doch es fragt sich, welche Rolle die Basis tatsächlich spielen soll.
Alfred Mayer, randlose Brille, schlohweißes Haar, tiefe Stirnfalten, wackelt am rechten Bildrand herum. Stockend liest er von ein paar Zetteln ab: seine Bewerbung. Das selbst gedrehte Video des 75-jährigen Rentners wurde auf Youtube erst siebenmal aufgerufen. Warum er grüner Spitzenkandidat werden wolle? Das wisse er selbst nicht so genau, sagte er jüngst auf dem Urwahlforum in Leipzig.
Auf dieselbe Frage schnappte sich Patrick Held das Mikro und sprang vom Podium: Er wolle „die schwarz-gelbe Gurkentruppe ablösen“, rief der 24-jährige Student mit den langen Haaren. Dabei bohrte er den Zeigefinger durch die Luft. Oder Roger Kuchenreuther. Der fränkische Zimmermeister – Vorliebe Fachwerkhäuser – rumpelte gegen Fiskalpakt und Euro-Rettungsschirm ESM. Das seien „Dinge, die gegen unsere demokratische Grundordnung gehen“. In seiner Bewerbung schrieb er, als Wassermann sei er schon immer an Politik, Ökologie und Gesellschaft interessiert.
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Oder der Kleintierarzt mit Heilkräuter-Hobby. Oder der Prokurist mit Haarkranz: Insgesamt sieben der elf Außenseiterkandidaten für das grüne Doppel-Spitzenamt schäkerten auf dem Podium herum. Vier hatten offenbar etwas Besseres zu tun. Dafür standen vor den Zuschauern noch die anderen Bewerber: Jürgen Trittin, Claudia Roth, Katrin Göring-Eckardt und Renate Künast.
Eingebettet in diese Freak-Show kommen die vier Politprofis, die sich medial eigentlich ausgesendet haben, plötzlich als grüne Hoffnungsträger daher. Das ist einer der PR-Effekte, die die Grünen mit der Urwahl erzielen. Und der ihnen neuen Zulauf beschert: Seit Anfang Juni kamen 600 neue Mitglieder hinzu. Aber ermöglicht das Format wirkliche Beteiligung, die die Partei nachhaltig schlagkräftiger macht?
Die Urwahl sei ein „historischer Moment“, sagen die Grünen. Für die Partei, die sich gern als Erfinder der Graswurzelbewegung sieht, mag das im Jahr 2012 zutreffen. Allerdings gab es ein ähnliches Verfahren bereits 1993 bei der SPD. Damals wählten die Sozialdemokraten Rudolf Scharping zum Parteivorsitzenden, der sich gegen Gerhard Schröder durchsetzte. Auch auf Landesebene – etwa 1995 in Berlin – gab es bereits eine SPD-Urwahl.
Die Grünen machen es natürlich anders; sie würden sagen: besser. Nicht nur, was die Zahl der Kandidaten betrifft. Für die Bewerbung um das grüne Vorstandsamt gab es keine Vorauswahl, keine Quoren. Wer bei den Grünen dagegen einen Programmantrag durchkriegen möchte, braucht mindestens 20 Unterstützer. Einzige Einschränkung bei der Urwahl ist die Frauenquote: Mindestens einer der beiden Amtsinhaber muss eine Frau sein. Am Montag gingen die Wahlbriefe an die knapp 60.000 Mitglieder raus.
Seite 2: Für Trittin, Roth und Göring-Eckardt ist die Urwahl toll, für Künast riskant
Ein Grünen-Mitglied sagt, das Format zeige der Basis ihre Grenzen auf. Heißt im Umkehrschluss: Wo der Basis Wege verschlossen werden, eröffnen sie sich den Parteioberen. Ohne die hätte es die grüne Urwahl ohnehin nicht gegeben: Zuerst hatte Fraktionschef Trittin seine Ansprüche auf den Parteivorsitz angemeldet; Grünen-Chefin Roth hatte gesagt, da mache sie nicht mit. Lieber die offene Kampfkandidatur. „Wer nervt mehr als Claudia?“, fragte sie bundesweit auf Plakaten.
Ganz nebenbei hat sie mit der selbstironischen Fassade der zweiten Reihe grüner, jüngerer Hoffnungsträger vorerst den Aufstieg versperrt. Nur merkt das wegen der Urwahl keiner.
Für Roth ist die Sache toll, weil sie sich gerne als knuffende Mitglieder-Umarmerin, Grüne-Jugend-Mutti und auf Schwarz-Gelb schimpfende Rampensau produziert. Basisdemokratie, das ist ihr Heimspiel. Für Trittin ist sie toll, weil er sowieso für den männlichen Spitzenposten ausgemacht ist. Vor dem Hintergrund der elf blassen Basis-Herausforderer kann sich der Ex-Umweltminister als Talkshow-Profi mit linkem Kämpferherz inszenieren. Vor allem, wenn Kandidaten auf die Frage, warum sich nur Basismänner beworben hätten, im Testosteronrausch Dinge sagen wie diese: „Wir müssen jedes Parteiamt doppelt besetzen, damit die Frauen ein bisschen Unterstützung bekommen.“
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Auch für die Christin Göring-Eckardt kann eine solche Urwahl toll sein. Sie setzt auf die Unterstützung des starken Realo-Flügels. Die Thüringerin, die daheim gerade auf Listenplatz eins gewählt wurde, hat Leute wie den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer oder Bayerns Parteichef Dieter Janecek hinter sich, wie überhaupt weite Teile der süddeutschen Klientel. Verliert sie, ist das nicht schlimm. Ihre bisherigen Ämter als Bundestagsvizepräsidentin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland behält sie.
Da geht Renate Künast schon ein größeres Risiko ein. Nach ihrer Wahlniederlage im Land Berlin 2011 darf sie sich zwar wieder empfehlen. Aber wenn sie jetzt erneut ein schlechtes Wahlergebnis erzielt, dürften sich ihre Hoffnungen auf künftige Posten wohl erst einmal zerschlagen.
Und die Außenseiter? Sie werden nicht einmal von der Basis ernst genommen. Während die erste Fragenrunde in Leipzig an alle Kandidaten geht, richten sich die online gestellten Fragen nur an die vier Spitzenkandidaten.
Überhaupt erinnert das Castingformat eher an ein Ringelpiez, nur ohne Anfassen: Die Fragen werden brav getrennt nach Männern und Frauen. Drei Minuten Antwortzeit, Applaus. Nachfragen nicht möglich.
Und die 25 Fragen, die von 6.000 Mitgliedern im Internet ausgewählt und – ganz authentisch – nie durch ein Rechtschreibprogramm gebürstet wurden, bieten jede Menge Raum für ausweichende Antworten. Etwa Nummer 12 von Dierk Helmken aus dem Kreisverband Heidelberg: Ob der Kandidat Regierungs- oder Parlamentsmitgliedern verbieten würde, bis zu drei Jahre nach der Amtszeit in die Privatwirtschaft zu wechseln? Helmken schränkt sogleich ein: „Die Existenz einer angemessenen Übergangsregelung für aus dem Amt scheidende Funktionsträger wird vorausgesetzt.“ Die gibt es aber leider nicht. Punkt.
Auch die Grüne Jugend hat Fragen, 22 an der Zahl. Sie bittet die Kandidaten „kurz und prägnant (maximal 5 Sätze)“ zu antworten – überschreitet diese Vorgabe aber selbst: sechs Sätze für Frage 21 zur sexuellen Orientierung. Und ohnehin alle suggestiv. Der Fragenkatalog ist eher ein Pamphlet für die eigene Programmatik.
Bei den Piraten kommen die ehrgeizigen Hechte auf den Grill, bei den Grünen schwimmen sie im Aquarium, zusammen mit ein paar bunten Zierfischen. Die Mitglieder dürfen allenfalls durch eine Glaswand starren. Sie sehen dann Spitzenkandidaten, die zwar ihren Mund öffnen. Zu hören ist aber nichts. Zumindest nichts Ehrliches – Strategien oder Ideen ohnehin nicht.
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Bei der Bündnisfrage etwa. Ein Gang mit der Union ist für Claudia Roth ein Pakt mit dem Teufel. Selbst die fromme Göring-Eckardt, der die CDU in Thüringen bereits Avancen macht, sträubt sich noch gegen den Gedanken. „Eine Partei, die wider besserer Einsicht am Betreuungsgeld festhält, die soziale Fragen vor sich herschiebt und gegen die erneuerbaren Energien agitiert, kann für uns kein Partner sein“, hatte sie der Bild am Sonntag kurz vor Beginn der Urwahlforen erklärt.
Trittin sagte, er sehe sowohl bei der Landtagswahl im Januar 2013 in Niedersachsen als auch im Bund „keine Chance für Schwarz-Grün“. Auf die Frage von Cicero Online, ob er eine Ampel-Koalition unterstützen würde, betonte er: „Wir kämpfen für Rot-Grün.“
Das Kalkül der vier: CDU, CSU und FDP sind an der Basis verhasst. Wenn die Spitzenbewerber also gewählt werden wollen, müssen sie derartige Bündnisse lautstark ablehnen – auch wenn in ihren Sätzen stets sprachliche Hintertürchen offen bleiben. Wohl wissend manövrieren sie ihre Partei damit in eine Machtfalle. Denn laut der jüngsten Emnid-Umfrage erreichen SPD und Grüne nur 40 Prozent der Stimmen – zu wenig, um an die Regierung zu kommen. Und ihr roter Hoffnungsträger, Peer Steinbrück, suhlt sich gerade in einer Nebenverdienste-Affäre.
Die Urwahl hätte ein Format sein können, um mit der Basis ernsthaft in einen Dialog zu treten. Zu fragen: Wo wollen wir hin? Wo finden sich mit den anderen Parteien Schnittpunkte? Denn auch das ist Demokratie. Das Ganze nennt sich dann Kompromiss.
Stattdessen machen die Grünen lieber Urwahl, besser gesagt: Oppositionswahlkampf.
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