- Wie viel Steuern akzeptiert die Mittelschicht?
Mit der Ankündigung, die Steuern nicht nur für Reiche, sondern auch für die Mittelschicht erhöhen zu wollen, ziehen die Grünen in den Bundestagswahlkampf. Das ist riskant, vor allem dann, wenn die Wähler jetzt anfangen zu rechnen
Es war einmal eine Partei, die war beseelt von der Idee, die Republik verändern zu wollen. Das Gesundheitssystem wollte sie umbauen und die Rente. Dazu plante diese Partei eine große Einkommenssteuererreform. Finanzieren wollte sie diese mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer. Mutig fühlte sich diese Partei, den Wahlsieg hatte die Spitzenkandidatin fest vor Augen, schließlich hatten die Menschen im Lande genug von der Regierung und den sich permanent streitenden Regierungsparteien. Alle Umfragen bestärkten sie in ihrem Reformeifer. Doch dann hingen plötzlich überall im Lande Plakate mit der Aufschrift „Merkelsteuer, das wird teuer“.
Die Wähler begannen zu rechnen. Sie dachten statt an die großen politischen Visionen an ihr eigenes Portemonnaie. Die Wechselstimmung schwand, der „Professor aus Heidelberg“ tat ein Übriges und beinahe hätte die Union ihren sicher geglaubten Wahlsieg 2005 noch verspielt. Nur in einer Großen Koalition konnte Merkel Kanzlerin werden, die radikalen politischen Reformen wurden abgesagt. Das neoliberale Experiment der CDU war gescheitert, bevor es so richtig begonnen hatte.
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Im Herbst dieses Jahres wollen nun die Grünen mit einem vergleichbaren politischen Experiment in den Wahlkampf ziehen. Auch die Grünen sind beseelt von der Idee, die Republik verändern zu wollen. Ökologischer und gerechter soll es in diesem Lande zugehen und vor allem die Besserverdiener, die bei den Grünen jetzt „Vielverdiener“ heißen, sollen die grünen Reformen zahlen.
Am Wochenende haben die Delegierten auf dem grünen Parteitag beschlossen, nicht nur den Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer von 42 auf 49 Prozent zu erhöhen, sondern auch das Ehegattensplitting abzuschmelzen. Dazu soll die Pauschalbesteuerung von Kapitaleinkünften abgeschafft und eine befristete Vermögensabgabe auf große Vermögen eingeführt werden. Rund 32 Milliarden Euro Mehreinnahmen für den Staatshaushalt sollen so zusammenkommen, damit die Energiewende, eine Bildungsoffensive und der Sozialstaat finanziert werden können. Die zentrale Frage des grünen Wahlkampfexperiments lautet somit: Wie viel finanzielle Belastung können die Grünen ihrer Klientel zumuten?
Es ist gar nicht ausgeschlossen, dass dieses grüne Experiment gelingt. Die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland hat sich in den vergangenen acht Jahren schließlich fundamental gewandelt.
Seite 2: Die Hoeneß-Debatte kommt den Grünen gerade recht
Eine Wechselstimmung gibt es zwar nicht; die Mehrzahl der Deutschen will, dass Merkel Kanzlerin bleibt. Doch zugleich herrscht bei den Wählern durchaus ein weitverbreitetes Unbehagen darüber, dass die Schere zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft immer weiter aufgeht; auch wenn die gefühlte Gerechtigkeitslücke in Deutschland sehr viel größer ist als die tatsächliche. Die Wähler empören sich über Milliarden-Boni für Manager und die Steuertricks der Superreichen. Die Hoeneß-Debatte kommt den Grünen gerade recht.
Die Parole „Geiz ist geil“ und die Ego-Republik waren gestern. Nach der Finanz- und Eurokrise wird immer häufiger die Frage nach der gesellschaftlichen Solidarität aufgeworfen. In Umfragen spricht sich die Mehrzahl der Deutschen für höhere Steuern und für eine Vermögensabgabe aus. Hinzu kommt, dass der postmodernen grünen Wählerklientel ihr gutes Gewissen schon immer etwas wert war. Sie zahlen gerne etwas mehr für gesundes Essen, für die Bildungschancen ihrer Kinder und Öko-Strom. Man kann es sich schließlich leisten und sich so gleichzeitig von der Unterschicht abgrenzen.
Doch die Zweifel, ob die Grünen es mit ihren Umverteilungsplänen nicht zu weit treiben, reichen bis weit in das linke Lager hinein. Nicht nur die SPD, deren Steuererhöhungspläne wesentlich moderater sind, sorgt sich. Auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann mahnte seine Partei kurz vor der Verabschiedung des Wahlprogramms, man könne nur mit „Maß und Mitte“ Wahlen gewinnen.
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Jetzt ist es zu spät. Schon nehmen die Regierungsparteien Aufstellung zur Steuerschlacht im Wahlkampf. Union und FDP versprechen hoch und heilig, in der kommenden Legislaturperiode die Steuern nicht zu erhöhen und sie rechnen den Wählern zugleich vor, was sie die grünen Steuerpläne kosten. In der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel ist an diesem Montag zu lesen, dass Ehepaare schon ab einem Brutto-Einkommen von 5.151 Euro höher belastet werden. Die Botschaft ist klar, es sind also nicht nur die Superreichen, die die Grünen zu Kasse bitten wollen.
Wahlkämpfe leben von Hoffnungen, von Erwartungen und Zukunftsaussichten. Finanzielle Zumutungen lassen sich im Parteienwettstreit nur schwer kommunizieren. Die Grünen haben sich für die kommenden fünf Monate also einiges vorgenommen.
Das grüne Experiment ist riskant. Denn wenn die Wähler der Mittelschicht jetzt das Rechnen anfangen, wenn sie kapieren, dass sie nicht nur für ihr gutes Gewissen, sondern auch für Hartz-IV-Empfänger zur Kasse gebeten werden und wenn dazu überall Plakate mit der Aufschrift „Trittinsteuer, das wird teuer“ hängen, dann könnten die Grünen ihre Steuererhöhungspläne im September noch bereuen.
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