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Generation Grün - Das Ende der Moralapostel

Der Rücktritt der grünen Führungsgarde ist eine Zäsur. Eine selbstgerechte, moralinsaure Generation geht unter, denn ihre einstigen Forderungen sind längst zum Mainstream geworden

Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Der Rücktritt der grünen Gründergeneration markiert das Ende einer politischen Generation. Es ist eine Zäsur für die Bundesrepublik Deutschland. Über Jahrzehnte haben sie das Land verändert. Nun sind sie über ihren eigenen Konservativismus gestürzt, über ihre Unfähigkeit, sich selbst zu verändern.

Ob Claudia Roth oder Renate Künast, Volker Beck oder Jürgen Trittin – sie alle wurden zutiefst geprägt von den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mitte der fünfziger Jahre geboren, begann ihre Politisierung und Radikalisierung zu Zeiten, da die Vorgängergeneration der 68er schon die ersten Dozentenstellen an den Unis besetzte. Man war zur großen Revolte von 1968 also ein bisschen zu spät gekommen, versuchte aber, das auf andere Weise wieder wettzumachen.

Ablehnung des „Schweinesystems“

Im Mittelpunkt dabei: Eine besonders nachhaltige Moralisierung der politischen Diskussion, die wenig anderes kannte als richtig oder falsch, Freund und Feind, Mensch oder Schwein. Kein Zufall vielleicht, dass damals in gewissen Kreisen das Wort vom „Schweinesystem“ die begrifflich genaue Analyse des „Kapitalverhältnisses“ und der „Klassengesellschaft“ ablöste. Und noch etwas prägte das Bewusstsein der „78er“: Die Ausdehnung der Politik auf alle Lebensbereiche. Denn klar: Auch das Private war politisch, und da buchstäblich alles anders werden musste, war auch alles politisch.

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Wer heute, 35 Jahre später, noch einmal im damals sehr beliebten „Roten Kalender – gegen den grauen Alltag“ blättert, findet die entscheidenden Stichworte dieser Generation auf engstem Raum: Brokdorf und die Anti-Atomkraftbewegung, Buback, Ponto, Schleyer, Stammheim, Baader/Meinhof und die  RAF, Antifaschismus und Alternativbewegung, Straßenkampf, Gewalt-Debatte und Öko-Kommunen, kleine Fluchten auf einsame Inseln und die große Utopie vom „ganz anderen“ Leben. Das Wort von der Revolution ging uns leicht von den Lippen. Es war die Zeit, als Wohngemeinschaften und Alternativprojekte noch der Vorschein einer anderen, besseren Welt waren. Wir teilten den Traum, den Rio Reiser 1972 nicht ganz ohne Beigabe von revolutionärem Kitsch besungen hatte:

Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei,/du warst hier und wir war'n frei/und die Morgensonne schien./Es gab keine Angst und nichts zu verlieren./ Es war Friede bei den Menschen und unter den Tieren./ Das war das Paradies.

Noch einmal manifestierte sich hier auch jener Generationenkonflikt, der schon die 68er in die radikale Opposition getrieben hatte. Die „alten ewigen Sozialdemokraten“ (Franz Josef Degenhardt) waren die verhassten Klempner des Kapitalismus, die staatsgläubige Reparaturkolonne der Arbeiterklasse, die die Ausbeutung nur etwas sozialverträglicher gestalten sollte.

Versäumte Vergangenheitsbewältigung bei der Pädophilie

Die erste Generation der Grünen wollte, was sonst, alles anders machen. Ihr Linksradikalismus lehnte das „herrschende System“ prinzipiell ab. Jürgen Trittin etwa, bis eben noch die Lichtgestalt der Grünen, wechselte 1980 praktisch übergangslos vom „Kommunistischen Bund“ (Parteiorgan: „Arbeiterkampf“) zu den Grünen: Der Wandel war fließend, aber unübersehbar. Die alte Klassenfrage wurde zur neuen „Gattungsfrage“ umgedeutet. Natur und Umwelt traten an die Stelle des einst „revolutionären Subjekts“, das unterdessen an Attraktivität und Orientierungssinn verloren hatte. Die „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) hatte ganze Arbeit geleistet.

Sie trug auch dazu bei, die (Selbst-)Kritik an den Irrtümern des Linksradikalismus der siebziger Jahre – des „roten Jahrzehnts“ (Gerd Koenen) – abzumildern oder gar ganz ausfallen zu lassen. Die Pädophilie-Debatte der vergangenen Tage und Wochen ist da nur ein Beispiel versäumter Vergangenheitsbewältigung – diesmal von links. Besonders Jürgen Trittin ist, anders als etwa Joschka Fischer, nicht durch eine allzu akribische Konfrontation mit den eigenen Positionen in den siebziger Jahren aufgefallen, über die sich noch viel mehr in den Archiven finden ließe. Mögen sie in Frieden ruhen.

Stattdessen warf man sich mit Inbrunst in die jahrelange Auseinandersetzung zwischen „Realos“ und „Fundis“ – von der Urfrage, ob man überhaupt an „bürgerlich“-parlamentarischen Wahlen des einst bekämpften „Systems“ teilnehmen solle, über die verzwickten Probleme eines Regierungseintritts bis zur Gewissensentscheidung, sich am Kosovokrieg der NATO zu beteiligen, die Joschka Fischer mehr als ein geplatztes Trommelfell gekostet hat. 

Spätestens nach dem Abgang der Radikallinken Jutta Ditfurth 1991 war klar geworden: Die Grünen sind endgültig im „System“ angekommen. Vorbei die Zeiten, als Otto Schily parteiintern noch als reaktionärer „Law-and-Order“-Mann beschimpft wurde, weil er auf das Gewaltmonopol des demokratischen Staates hinwies. Von einigen Ausnahmen abgesehen – eine symbolische Straßenblockade hier, ein wortradikaler Aufruf dort – haben sich die Angehörigen der Generation Claudia zu braven Staatsbürgern gemausert, deren Parteitage besser organisiert sind als manche Aktionärsversammlung.

Gelangweilte Journalisten mit ansehnlichem Jahresgehalt beklagten schon die flagrante „Verbürgerlichung“, die nur noch ganz selten spektakuläre Eklats zuließ. Und tatsächlich, längst war im ganzen Land ein grünes juste Milieu zwischen iPad und Bio-Ei entstanden, das es sich in der eigenen schönen neuen Lebenswelt bequem gemacht hatte. Was immer in der Welt draußen sonst Furchtbares geschah – entscheidend fürs Wohlbefinden war das eigene gute Gewissen, stets auf der richtigen Seite zu stehen.

Heute nur noch Mainstream

Der Markenkern dieses linksgrünen Spießertums besteht ja gerade in jener Selbsttäuschung, man sei Teil einer „kritischen Minderheit“, die sich gegen den angeblich konservativen, gar reaktionären Mainstream stemme. Dabei ist das Gegenteil richtig: Die vermeintlich kritische Haltung, ob zur „Klimakatastrophe“, fehlender Frauenquote oder Massentierhaltung, ist längst mehrheitsfähig, und wenn es gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr geht, darf sich selbst der militante Kreuzberger Pazifist zu einer satten Zweidrittel-Mehrheit der Bundesbürger zählen.

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Die Beglaubigung dieser so sanft wirkenden Entwicklung des kollektiven Coming of Age war die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Das Trommelfeuer der Realitätsschocks während der sieben Regierungsjahre 1998-2005 – vom Kriegseintritt in Afghanistan bis zur Agenda 2010 – hat die Generation Grün zu echten Politprofis gemacht, denen kein Kompromiss mehr, ob „falsch“ oder „richtig“, fremd ist.

Doch die harte Schule hatte ihren Preis. Der Glanz des frech-Aufsässigen war komplett verbraucht, und jünger war auch niemand geworden, selbst wenn man abends noch schnell „Ton, Steine, Scherben“ auf den Plattenteller warf.

Umso mehr versuchten die derart ernüchterten Altlinken mit Dienstwagen, das Image des Rebellischen wenigstens rhetorisch zu konservieren. Legendär etwa Claudia Roths flammende Parteitagsreden, bei denen kein Auge trocken blieb, oder Renate Künasts Talkshow-Auftritte, die derart vom harschen Ton des Besserwissens geprägt waren, dass jede andere Meinung a priori im reaktionären Abseits stand.

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

Auch Jürgen Trittin gab noch am Abend des Wahlsonntags eine Kostprobe dieser manischen Selbstgerechtigkeit, die gar nicht mehr in der Lage ist, eigene Positionen in Frage zu stellen. „Mächtige Interessengruppen“, so erfuhr die erstaunte Nation vorm Fernseher, haben also dem lieben Jürgen vom KB Nord in Göttingen die letzte Chance auf ein Ministeramt in Berlin geraubt. Mühsam versuchte die gescheiterte Nummer 1 der Grünen, die alten Verschwörungstheorien mit politisch korrektem Neusprech zu überdecken.

Dabei funktioniert politische Korrektheit, die Zentralperspektive dieses moralisch hochaufgeladenen Rechthaber-Universums, genauso wie der gute alte Lederhosen- und Gamsbart-Konservativismus der fünfziger Jahre: Was nicht passt, wird passend gemacht. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Die bittere Ironie, die nun im kollektiven Abgang dieser Generation sichtbar wird, liegt in der Umkehrung eines alten Sponti-Spruchs. „Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben!“ riefen wir einst voll jugendlich-anarchistischem Sündenstolz, damals, als wir gegen autoritäre Rechthaber, Besserwisser und Moralapostel protestierten.

Heute müsste es heißen: Wir sind zu denen geworden, vor denen wir unsere Eltern immer gewarnt haben – autoritäre Rechthaber, Besserwisser und Moralapostel.

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