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Grün war die Hoffnung
25 Jahre lang waren die Grünen „Avantgarde“. Jetzt wirken sie hohl und weichgespült. Mit dem Verlust dieses Vorreiterimages sind sie im Begriff die Bindungswirkung für ihre spezielle Klientel zu verlieren.
Weichgespült sei er, der Edmund Stoiber. Wer immer diesen Spruch im Bundestagswahlkampf 2002 erfunden hatte, es handelte sich um eine typische, von den Grünen verwendete Parole. Das klingt nach außen lustig. In der ganz eigenen grünen Sprache war dies die allseits verstandene Botschaft: Stoiber ist ein äußerst gefährlicher Schwarzer mit schlimmer Vergangenheit, der Kreide gefressen und in Öl gebadet hat und ergo die Wähler täusche.
Jetzt müssen die Grünen gewärtigen, dass sie selber tatsächlich nur noch eine weichgespülte Gruppierung sind. Der Biss ist raus, die große Ideenlosigkeit hat sich bei den Grünen, die sich nur noch aus 25-jähriger Tradition selber als die großen Impulsgeber zu gerieren versuchen, breit gemacht. Die Öko-Partei offenbart eine zunehmende Vermuffung von innen heraus. Die Fassade ist glatt und stromlinienförmig geworden.
Die einstige linksradikale APO- und K-Gruppen-Partei mit fundamentalistischem Alternativ- und Aussteigergehabe wählt heute in ihrer Ansprache an den Wähler Worthülsen wie „Bürgergesellschaft“, „Gerechtigkeitshorizont“ oder spricht von „individuellen Sozialtransfers im unteren Bereich“. Sie bezeichnet sich als „moderne, wertorientierte und emanzipative Kraft, die links und freiheitlich“ und sogar „wertkonservativ“ sei. Mehr flächendeckende Verflachung und Beliebigkeit geht nicht. Das Wort „wertkonservativ“, das bis vor kurzem von den Grünen als Schimpfwort gegen die Rechten verwendet wurde, ist nun auch bei dieser Partei, die von sich behauptet, als einzige Partei Deutschlands nicht im rechten Lager zu fischen, angekommen.
Renate Künast, die neue Übermutti der Grünen, verkauft sich heute als „Mitte-Links“, was aus dem Mund einer Person mit einem ehedem eher fanatischen Auftritt und starken Belehrerallüren etwas arg gewendet klingt. Bei allem muss unterstellt werden, dass die Vokabel „Mitte-Links“ bei den Grünen immer noch etwas fundamental anderes bedeutet, als diese Vokabel im allgemeinen Sprachgebrauch aussagt. Bei den Grünen wird eine Art Tendenz zum Etikettenschwindel sichtbar, die auf Subs-tanzverlust hindeutet.
Reinhard Bütikofer hat daher völlig Recht, wenn er seinen Eindruck von den Sondierungskontakten nach der Bundestagswahl mit der CDU zusammenfasst: „Im Gespräch mit der Union hatte ich zwar den Eindruck, dass Frau Merkel gegebenenfalls versuchen würde, mit uns zu regieren. Aber sie versteht nicht, wie tief und fundamental die politischen Differenzen zwischen uns sind.“ So ist es. Selbst, wenn beide Seiten dasselbe sagen, meinen sie das Gegenteil. Man lebt eben auf völlig unterschiedlichem Orbit und es bedürfte für wirkliche Verständigung eines echten Quantensprunges. Die Grünen sprechen anders, denken anders, ticken kulturell anders. Wenn sie „links“ sagen, meinen sie links anders, wenn sie „bürgerlich“ sagen, meinen sie es anders. Die Worte „christlich“ und „demokratisch“ verwenden die Grünen bei genauer Textexegese anders, der Begriff der „ökologischen Erneuerung“ – scheinbar kompatibel mit der heimatbezogenen, fortschrittlichen Umweltpolitik der CSU – ist bei ihnen anders gemeint. Und auch die Schlüsselgröße der Moral ist auf Grün etwas völlig anderes.
Was ist an den Grünen das Einzigartige, das Andere, das Auserwählte? Die Antwort: Die Avantgarde-Position, die die Grünen fast 25 Jahre besetzt hielten.
Das wohl entscheidende geistig-politische Elixier in der Geschichte der vergangenen hundertdreißig Jahre war das Moment der Avantgarde, das man ähnlich der Romantik oder der Renaissance auch das Avantgarde-Zeitalter nennen könnte und das sich jetzt allem Anschein nach seinem Ende zuneigt.
Es war regelmäßig ein bestimmter Menschentyp, der sich selber für geborene Elite hält und folglich als Minderheit empfindet, eben als Avantgarde. Kraft seines aus dieser Kombination geborenen Überlegenheitsgefühls ist er auf eine autolegitimierende Weise davon überzeugt, immer die „Gesellschaft“, den „Status quo“, die „herrschenden Machtstrukturen“ okkupieren zu sollen und, wo das nicht möglich ist, zu deformieren oder gar zu zerstören, zumindest aber zu belehren. Es fängt in der Familie an. Der hundsordinäre Ödipus-Komplex wird avantgardistisch überhöht und heftig ausgelebt und es geht mit den verbalen, aber oft auch physischen Attacken auf die Gesellschaft und den Staat, die die Avantgardisten als ihre Entfesselung zum Paradiesischen hin genießen, weiter.
Dieses Elixier Avantgarde, das auch mit dem Wort „Avantgarde“ in den Zirkeln wie ein Joint herumgereicht wurde, beanspruchten als Erste die Kommunisten von der Pariser Kommune von 1870, die Kommunisten am Anfang des vorigen Jahrhunderts und selbst noch die illegalen Westkommunisten der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik, während die DDR-Kommunisten auch deshalb scheiterten, weil sie fehlende Avantgarde schon in den fünfziger Jahren durch Panzer ersetzen mussten. Avantgarde war tendenziell immer in einer gewissen Synthese aus Sex und Politik verankert. In diesem Avantgarde-Kontext ist auch die gesellschaftsgestaltende Wirkung vieler Künstler, Schriftsteller und Philosophen zu verstehen, die Boheme von Paris à la Sartre und de Beauvoir und in Deutschland in den Kreisen um Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Ernst Busch und so weiter, die bis heute auf eine geradezu mythische Weise – wahrscheinlich weit über ihre eigentliche Bedeutung hinaus – avantgardistische Archetypen des Unangepassten, des Kreativen, des Tabusprengenden, des wahrhaft Authentischen, Revolutionären und rundum Anti-Bürgerlichen sind.
Die Avantgardisten empfanden es als Avantgarde, die Moral aus ihrer tradierten Transzendentalität oder ihren historischen, naturrechtlichen Wurzeln immer wieder neu zu befreien und durch ihren eigenen, qualitativ neuen Moral-Begriff zu ersetzen. Hardcore-Avantgardisten sahen oft auch das kriminelle Delikt als keine moralische Kategorie mehr an, sondern akzeptierten das Strafrecht insgesamt in seiner Existenz ausschließlich aufgrund seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit. Die Auffassung der Avantgarden war immer: Gesellschaften gäben sich eben Spielregeln, die vergleichsweise nur zufällig sind und die man also jederzeit beliebig austauschen könnte. Dies hatte zur Folge, dass die Avantgardisten immer wieder aus ihrem Pazifismus, in dem sie auch schwelgten, hoffnungslos unkontrolliert ausbrachen und in einer Art selbst erfundener Moral dritten Grades Revolution als den entscheidenden Rechtfertigungsgrund für Mord, Totschlag, Brandschatzung und sogar Völkermord ansahen. Da wo Avantgarde an die Macht kam, wie zum Beispiel in der Sowjetunion, denaturierte sie regelmäßig mit Lichtgeschwindigkeit, weil eine avantgardistische Behandlung der Moral immer wieder zum Verlust des humanistischen Koordinatenkreuzes führte. Die Avantgardisten, die zumeist selber einen höchst bürgerlichen Hintergrund hatten, lebten oft zwischen Askese und weinseligem Prassen, zwischen urbanem Clochard und gebrochenem feudalistischen Luxus, zwischen Revolution, Sabotage, Terror, Konspirativität und Verschwörung und Ruhm, Mythos und etabliertem Salon. Avantgarde war die abendländische Variante einer permanenten Kulturrevolution.
Den Platz der Avantgardisten übernahmen in den sechziger Jahren erst die APO und dann die 68er. Eine kurze Zeit übernahmen die Jusos innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der SPD in den siebziger Jahren diese Rolle und veränderten ihre Partei, hielten sie damit auch an der Macht und im öffentlichen Diskurs. Dann besetzten die Grünen Ende der siebziger Jahre – aus einer fundamental-ökologistischen und einer vergleichsweise revolutionären, kommunistischen, maoistischen, gewaltbezogenen Wurzel hervorgegangen – die Avantgarde-Position in der Bundesrepublik. In der ihnen typischen Mischung aus „Alles-nur-Spaß“, hochmoralischem Idealismus und einem teils schrillen Alarmismus, der die Medien jedes Mal zum Tanzen brachte, spielten sie mit der Gesellschaft Hase und Igel. Zur Avantgarde der Grünen gehörte in friedlichen Zeiten die Provokation bis auf die Spitzen der Nerven und in weniger friedlichen Zeiten, etwa Atomtransporten, die eine oder andere intensivere Körperverletzung.
In den 16 Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls hatte sich im so genannten linken Lager, zu dem weitestgehend auch die Leitmedien gehörten, eine regelrechte subkulturelle, neue Innenwelt gebildet, die, als Helmut Kohl 1998 abgewählt wurde, im Rausch der Siegesfeiern der rot-grünen Machtübernahme einen ersten befreienden Ausdruck fanden. Es war die Machtübernahme der Avantgarde in der Bundesrepublik. Die grünen und die roten Avantgardisten von einst an der Macht – das war ein geradezu sektenhafter Wir-Taumel.
Jenseits aller Energiebilanzen und aller Sinn- und Vorsorgefragen: Die Windmühlen waren eben auch einfach geil, weil sie die anderen nervten. Die Atommeiler sollten abgeschafft werden und die Gesellschaft sollte um ihren Strom bangen, und die Umwelt stünde angeblich kurz vor dem atomaren Supergau und wen störte es dann schon, dass die Grünen aus den jahrzehntelangen, hysterischen Atomausstiegsplänen nun jahrzehntelange, so genannte Restlaufzeiten machten, von denen jeder weiß, dass es im Jahr 2025/35 oder so völlig bedeutungslos sein wird, was die damals, sprich, was heute über das projektierte Ende eines Meilers beschlossen wurde. Jeder weiß auch, dass sich die Atomtechnik qualitativ weiterentwickelt haben wird. Das alles spielte aber für das grüne Lebensgefühl keine Rolle. Auch das Dosenpfand mit äußerst zweifelhaftem Sinn, von den stets zur Verfügung stehenden, eigenen „Fachleuten“ befürwortet, interessierte den durchschnittlichen Grünen persönlich nicht. Aber es macht eben Spaß, dabei zuzusehen, wie sich andere Leute mit schweren Bierkisten abschleppen oder nach den typischen, grünen Straßenfesten über Glasscherben fahren. Selbst auch die Homo-Ehe interessierte den durchschnittlichen Grünen nicht die Bohne, außer man bewegte sich im öffentlich wahrgenommenen Bereich. Ehrlichkeit war nie ein Problem. Solange die Konservativen mit ihrem ausgeprägten Avantgarde-Komplex über jedes Stöckchen sprangen, das ihnen hingehalten wurde, sich echauffierten, und mit sachlichen Argumenten gegenhalten wollten, lief das grüne Lebensgefühl auf lustvoll gesteigerter Betriebstemperatur.
Ideell, wenn man es denn so nennen will, waren die kleinen Grünen der Boiler und die große SPD eine mit ihrem Gewerkschaftsflügel belastete, kleinbürgerliche Langweilerveranstaltung. Obwohl die Grünen stets eine Klein-Partei blieben, benahmen sie sich im rot-grünen Lager wie die eigentlichen Trendsetter. Erst als den Grünen nichts anderes einfiel als die sinnlose und sinnleere Vokabel „Nachhaltigkeit“, die dann nachhaltig als „Substanz“ verkauft wurde, musste es mit den Grünen zu Ende gehen. Der Provokationsvorrat, die Ideen, mit welchem Adler noch welche Autobahn verhindert werden kann, gingen aus und auch die Adler funktionierten plötzlich, für alle sichtbar, nicht so, wie sie sollten.
Plötzlich war es in den Medien erstmalig, auch auf substanzielle Beschädigung des eigenen Nestes hin, der absolut neueste und schrillste Schrei, am grünen Sockel zu sägen. Der so genannte grüne Übervater Fischer, der von einigen Medienleuten wie eine Mischung aus Jesus, Che Guevara, Carlos und einer übernatürlichen Erscheinung verehrt wurde, musste fast wie aus dem Nichts heraus, während der Visa-Affäre, die Anfang des Jahres begann, am meisten Schläge von früheren Hausmedien einstecken.
Warum konnte Fischer so nichtsbewegend die grüne Bühne verlassen? Sein fast rückstandsfreier Abgang ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher, als Fischer von seinem Lager als geradezu unersetzliche Figur der deutschen und gar der Weltpolitik angesehen wurde. Fischer hat, mitnichten als Einziger bei den Grünen, erkannt, dass das, was man bisher grün nannte, aus und vorbei ist. Er hat auch sehr sensibel wahrgenommen, dass sein eigener persönlicher Avantgarde-Akku ausgebrannt ist. Die Grünen sind möglicherweise die letzte Avantgarde im so genannten postindustriellen Zeitalter. Sie müssen in der Tat etwas qualitativ Neues, eine regelrechte Nachfolgepartei erfinden, um die vielen Pfründe und Parteiposten ihrer Nomenklatura aufrechterhalten zu können. Die Epoche der Avantgarde selbst könnte vorbei sein.
In einer Zeit, wo Provinzlinge auf Parkplätzen sozusagen öffentlich koitieren, gibt es auf diesem Gebiet nichts mehr, was noch provozieren könnte. In einer Zeit, in der jedwede Revolution so unendlich oft und leidvoll in allen Varianten durchgekaut und dargestellt worden ist, musste passieren, was passiert ist: Grün ist zur bloßen Attitüde verkommen, das haut keinen mehr vom Hocker. Einen letzten großen Wirkungstreffer landete Fischer noch, indem er über ein Interview in der taz die kurzzeitig schwarz-gelb gewendeten Journalisten aufforderte, wegen ihrer neokonservativen Irrtümer in Bezug auf die Wahl den Harakiri zu begehen, was postwendend zu einer Welle von mehr oder weniger zerknirschten journalistischen Nabelschauen in allen möglichen Medien führte. Ein letzter Sieg Fischers über seine Medien.
Bettina Röhl arbeitete für Tempo und Spiegel TV und lebt heute als freie Journalistin in Hamburg
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