- Vom gefährlichen Egotrip der Impfgegner
20 bis 30 Prozent der Deutschen sind Impfskeptiker. Dass sie damit nicht nur die eigene Gesundheit und die ihrer Kinder aufs Spiel setzen, ist vielen nicht bewusst
Das ist heute eine heikle Angelegenheit. Ich möchte etwas über das Impfen schreiben. Besser: Über die gefährliche Impfparanoia vermeintlich aufgeklärter Eltern. Im Normalfall würde ich jetzt vom Leder ziehen, kolumnenartig wolkenhaft, ein Tritt da, ein kleiner Seitenhieb hier. Bei der Impfgeschichte aber muss ich vorsichtig sein, denn der Freund liest mit. Mehrere Impfskeptiker habe ich da in den eigenen Reihen, vom Waldörfler bis zur Homöopathentochter. Das Thema umschiffen wir vorsichtig, es ist pikant, geht’s um die Kinder, kommt man mit Blödelei und dummen Witzen nicht weiter.
In der Impfsache geht es um so vieles: Da kumulieren Politik, Ethik und Glaube, Unsicherheit, Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten bis hin zu nachvollziehbaren Ängsten in einer ungesunden Mischung. Manchmal einer tödlichen.
Was die Skeptiker fürchten: dem Körper durch das Impfen seine eigene Heilfunktion abzusprechen. Das „Unterdrücken“ der Krankheit führe erst recht zu chronischen Erkrankungen wie Allergien, glauben sie. Diese Allergien werden zusehends zum Messfaktor für die Gesundheit von Kindern. Ob langes Stillen, spielen im Dreck oder, der Beginn der Fütterung mit Kuhmilch – immer wird auf die Risikominimierung von Allergien hingewiesen. Wenn Karl dann trotzdem Neurodermitis bekommt, Klara Asthmatikerin ist und Claude Heuschnupfen hat, gucken die Eltern hilflos auf das defizitäre Kind. [[nid:54980]]
Der Allergologenverband Brandenburg verbreitet auf seiner Webseite die Ergebnisse einer Studie, die die Verbreitung von Allergien bei Kindern in Waldorfschulen untersucht hat. Dass diese bei den Anthroposophen-Kindern weniger vorkämen, konnte nicht bestätigt werden. Außerdem: „Eine anthroposophisch ausgerichtete, ‚biodynamische’ Ernährung beeinflusste das Allergierisiko nicht“. Wir dachten es uns schon.
Trotzdem: Professionelle Impfgegner hantieren furchtlos mit Behauptungen, es gäbe keine unabhängigen Studien, keine Vergleiche der Pharmastoffe mit Placebos – sowieso würden alle Studien von Impfstoffherstellern betrieben. Dass Kinderkrankheiten „zwar unangenehm, aber bei gesunden Kindern nicht gefährlich“ seien, wie es die Naturheiler propagieren, ist dabei ebenso wenig harmlos wie falsch. Mit diesen Lügen im Gepäck aber veranstalten grenzdebile Eltern sogenannte Masernparties, auf denen sich ihre Kinder gegenseitig anstecken sollen, um den kontrollierten Piekser des Arztes zu umgehen.
Dabei gibt es in Deutschland eine unabhängige Ständige Impfkommission, die ihre Empfehlungen regelmäßig überprüft. Der Impfstoff selbst enthält abgetötete oder abgeschwächte Erreger, gegen die der Körper Antikörper entwickeln kann, ohne durch den Ausbruch der Krankheit geschwächt zu werden. Es entstehen Gedächtniszellen, die im Falle einer Infektion reagieren können und die Angreifer zunichte machen.
In Deutschland gibt es schätzungsweise vier bis fünf Prozent radikale Impfgegner, die ihre Kinder gegen gar nichts impfen. Aber diese fünf Prozent sind nicht das Problem. Das sind vielmehr jene 20 bis 30 Prozent, die eine individuelle Entscheidung daraus machen – die Impfskeptiker. Denn entgegen der landläufigen Meinung geht es hier nicht um Individualität. Es geht um Gemeinschaftsdenken. Um die Verbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern, muss der allergrößte Teil der Bevölkerung geimpft sein. Da reichen 70 Prozent Impfwilliger nicht aus, wir brauchen mehr, plädiert die Ärztin Marion Hulverscheidt von der Charité in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk .
Die Kinderlähmung etwa ist längst ausgerottet, könnte sich aber schnell wieder ausbreiten, wenn die Impfbereitschaft der Menschen nachlässt. Herdenschutz nennt sich der solidarische Gedanke, der dahinter steht: selbst bei einer so wahnsinnig ansteckenden Krankheit wie den Masern, könnten Säuglinge, Kranke mit schwachem Immunsystem oder auch ganz alte Menschen geschützt werden. Aber eben nur, wenn der Herdenschutz funktioniert. Wenn alle anderen, die können, mitziehen.
München leidet seit Wochen an einer Masern-Epidemie. Von dort weitergetragen hat diese nun vermutlich eine Familie aus dem Kölner Umland. An einer dortigen Waldorfschule fällt der Unterricht aus. Es hatte sich herausgestellt, dass 100 der insgesamt 400 Schüler keinen Impfschutz vorweisen konnten. Masern können lange Jahre in den Gehirnzellen ihres Opfers überdauern, dann plötzlich zuschlagen und schwere Hirnhautentzündungen auslösen. Vor einigen Tagen machte der Tod eines Teenagers Schlagzeilen, der sich vor einem Jahrzehnt im Wartezimmer seines Kinderarztes angesteckt hatte und nun Jahre später an den Folgen gestorben war. Mumps und Röteln, die im Babyalter in einer Kombi gespritzt werden, sind nicht minder unangenehm. Mumps löst bei jedem dritten Jungen eine Hodenentzündung aus, die unfruchtbar machen kann, Röteln in der Schwangerschaft verursachen Fehlbildungen oder Fehlgeburten des Embryos.[[nid:54980]]
Wir haben ein Wohlstandsproblem. Schon lange kämpfen wir kaum noch um Leben und Tod. Vater und Mutter müssen sich für ihre Nachkommen längst nicht mehr in Gefahr begeben, für sie die Krallen wetzen, Zähne zeigen, in den Kampf ziehen. Heute läuft das Leben safer ab – und wir drehen in Sachen Kindesbehütung hohl. Vielleicht ist es dieser Leerlauf, der zu irrationalen Reaktionen führt. Anstatt froh zu sein, dass wir unsere Kinder – relativ einfach – mit einem kleinen Pieks nämlich, vor einigen Todesgefahren schützen können, misstrauen wir dem.
Natürlich ist es nicht leicht, das einem anvertraute Geschöpf in einem zufrieden wohligen Zustand dem Arzt zu übergeben, der die kleinen Oberschenkel mit Nadelstichen traktiert. Aber es macht so viel Sinn.
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