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(picture alliance) 1,8 Prozent stehen am Schluss der Berlinwahl auf dem Konto des FDP-Spitzenkandidaten Christoph Meyer

Berliner FDP im freien Fall - „Gestorben wird zum Schluss“

Stunde null im Berliner Abgeordnetenhaus: Die FDP wurde von der politischen Landkarte radiert. Die Fraktion musste die Umzugskartons packen und sich selbst abwickeln

Der hier auch?“ Der Mitarbeiter hält der Frau den Ordner hin. Sie drückt ihre Zigarette aus, greift ihn, prüft ihn, reicht ihn zurück. „Jau, weg damit“, sagt sie. Mieke Senftleben hat ihr Büro fast leer geräumt. Die drei PCs stehen noch, Telefone, Stiftebecher, Möbel. Aber die Wände sind nun kahl, die Regale leer, auf dem grauen Teppich stapeln sich die Akten. Vor ihrer Türe, im breiten, rosafarbenen Flur der FDP-Fraktion im vierten Stock des Berliner Landtags, steht ein Container, der bis zum Rand mit mehreren Kubikmetern Papier gefüllt ist: Ausschussprotokolle, Broschüren, ehemals vertrauliche Unterlagen, heute alles Müll.

Senftleben, eine resolute 59-Jährige mit silbergrauem Haar und verbindlichem Händedruck, ist eine der elf Berliner FDP-Abgeordneten, die sich nach dem Wahlmassaker im September eine neue Beschäftigung suchen müssen. Katastrophale 1,8 Prozent bekamen die Liberalen, weniger als die rechtsextreme NPD. Sie fliegen damit hochkant aus dem Abgeordnetenhaus. Die Fraktion bestand offiziell noch bis zum 27. Oktober, danach kaperte die Piratenpartei ihre Räume. Bis dahin mussten die Büros renoviert, Schlüssel, Sicherheitskarten und Parkausweise beim Empfang abgegeben und die FDP-Fraktion „liquidiert“ – also abgewickelt – worden sein.

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An diesem Nachmittag, knappe zwei Wochen nach den Wahlen, ist Senftleben die einzige Liberale, die überhaupt noch auf den hallenden, gespenstisch leeren Gängen anzutreffen ist. Die übrigen zehn Türen sind versperrt, viele der Büros bereits leer gefegt und aufgegeben, ihre alten Bewohner zum Großteil abgetaucht. Senftleben ist eine Ausnahmeerscheinung in ihrer Fraktion. Sie ist eine von zwei Frauen und gehört zusammen mit dem 56-jährigen Volker Thiel und dem 63-jährigen Klaus-Peter von Lüdecke zur alten Schule der Parlamentarier: Die drei sitzen seit 2001 im Landtag, alle anderen stießen erst später dazu.

Darunter sind jene, die Frank Henkel, Berliner CDU-Chef, unlängst als „Yuppie-Boygroup“ schmähte: die Karrieristentruppe um den blonden Spitzenkandidaten Christoph Meyer, Mittdreißiger auf der Überholspur, Leute wie Meyers Stellvertreter Björn Matthias Jotzo, der seine eigene, erfolgreiche Kanzlei führt, Mirco Dragowski, ebenfalls Rechtsanwalt, oder Henner Schmidt, der McKinsey-geschulte Unternehmensberater. Erfolgsverwöhnte Männer mit schneidigen Karrieren, die diesen Herbst vielleicht zum ersten Mal das Scheitern lernen. Meyer selbst – einziger Mann der Fraktion ohne zweites berufliches Standbein und deshalb besonders hart betroffen – gilt inzwischen als unerreichbar. Die meisten anderen lassen sich entschuldigen. Jotzo erklärt, ihm sei nicht nach Abgesängen, er wolle nicht sprechen.

Dass es knirschen könnte in Berlin, zeichnet sich seit Monaten ab. Zuletzt sprechen die Prognosen von 2 bis 4 Prozent. Von Meyer, dem Spitzenkandidaten, haben laut einer Umfrage der Morgenpost zwei Wochen vor der Wahl 77 Prozent der Berliner noch nie gehört, und auf den letzten Drücker appellieren die in Panik geratenen FDP-Kampagneros mit populistischen Parolen an die schlichteren Wählerherzen: mit der Forderung nach Härte in Integrationsfragen („Integration ist eine Bringschuld“) oder zugespitzter Eurokritik („Deutsche Steuerzahler sollen nicht für die Schulden der Griechen zahlen“). Nach innen gibt Meyer – privat ein passionierter Ruderer – Schlachtrufe aus wie: „Gestorben wird zum Schluss.“ Es wird alles nichts helfen.

Die elf Fraktionsmitglieder sind am Wahlabend über ganz Berlin verteilt: Auf dem Rückweg von Wahlkampfauftritten, vor den Bildschirmen der Bundesparteizentrale, in ihren Bezirksbüros, einige kommen zum Finale der Auszählungen ins Berliner Abgeordnetenhaus hinter dem Potsdamer Platz, darunter der damalige Fraktionsvize Sebastian Czaja, ein drahtiger, 28-jähriger Marketingexperte mit Gelfrisur und Gewinnerlächeln.

Die Reaktionen der Liberalen auf das Wahldebakel in Berlin, lesen Sie auf Seite 2...

Kurz vor 18 Uhr, noch bevor im dritten Stock Abgeordnete, Mitarbeiter, Journalisten und Unterstützer fassungslos ob der vernichtenden ersten Prognose aufhören, mit den Buffettellern zu klappern, und geschockt die Bierflaschen sinken lassen, setzt Czaja in seinem Büro ein Stockwerk höher zum Dolchstoß an: „Das einzige richtige Signal kann jetzt nur der Rücktritt des Vorsitzenden Christoph Meyer sein, der als Spitzenkandidat nicht funktioniert hat“, diktiert er dem Berliner Tagesspiegel. Die Frage, ob er sich selbst als Erbprinz in Stellung bringen wolle, beantwortet Czaja nicht. Wenige Minuten später verschickt er eine bereits formulierte Mail mit der gleichen Forderung an die Presse: „Wir benötigen jetzt einen radikalen Schnitt.“

Eine halbe Stunde später hat Meyer die undankbare Aufgabe, im Thomas-Dehler-Haus vor die Kameras zu treten. Er steht vor einem Scherbenhaufen. Nicht nur hat die Berliner FDP den Wiedereinzug in den Landtag verpasst und ihr bisher historisch schlechtestes Ergebnis von 1999, nämlich 2,2 Prozent, noch unterboten, in keine der zwölf Berliner Bezirksvertretungen wurde auch nur ein einziger Liberaler gewählt. Die FDP wurde restlos von der politischen Landkarte radiert. Der plötzlich blasse Meyer blickt, als sei er im falschen Film gelandet. Noch nie, erklärt er trotzig, sei die Landespartei so geschlossen wie heute, „seit 20 Jahren nicht“. Seine zehn Fraktionskollegen sind derweil in alle Winde verstreut.

Das erste, ungestörte Zusammentreffen der elf Fraktionsmitglieder nach der Wahl ist zugleich das letzte. Der Zweck: Ein Kopf soll rollen. Es ist – entgegen aller Erwartung – nicht der von Meyer. Nach einem kleinen Parteitag im Anschluss ans Debakel weiß der erleichterte Landesvorsitzende zu berichten, es habe keine Rücktrittsforderungen gegeben. Stattdessen bekommt er seine Revanche. Für den 30. September lädt er zur Fraktionssitzung. Einzig konkreter Tagesordnungspunkt: „Abberufung des Vorstandsmitglieds Sebastian Czaja“. Nur zwei Fraktionsmitglieder stimmen dagegen. Der Rest ist auf Meyers Seite, und auch den Rechtsschwenk in letzter Minute nimmt man ihm kaum übel. „Gerade das Eurothema liegt für die FDP doch nahe, um ihr Überleben zu sichern“, sagt Sebastian Kluckert, Fraktionsmitglied mit gegelter Igelfrisur. „Wir hätten noch stärker polarisieren müssen“, glaubt er. „Nur traut sich das in der Berliner FDP keiner mehr.“

Ironischerweise ist der einzige der elf Abgewählten, der weiterhin sein eigenes Bezirksbüro betreiben wird, der gedeckelte Sebastian Czaja. Schon länger wird der smarte Vermarkter, der vor Jahren durch die Affäre mit einem Nacktmodell Schlagzeilen machte, von „Wirtschaftskontakten“ seines Bezirks Marzahn-Hellersdorf gesponsert, allen voran von seinem Arbeitgeber, der Baufirma „Strempel & Große“. Das Büro soll so weiterfinanziert werden, einen Tag die Woche will Czaja für die FDP aktiv bleiben, und in Ortsbetrieben, dem Siedlerverein oder der Spielplatzkommission beraten und netzwerkeln.

Für die meisten seiner Ex-Kollegen dagegen hat die Politik vorerst ein Ende, untergehen wird deshalb wohl keiner. Die Mehrheit hält nebenher lukrative Jobs, alle bekommen zudem ein Übergangsgeld: Rund zweieinhalbtausend Euro, einen Monat für jedes geleistete Jahr im Parlament. „Klar muss man sich daran gewöhnen, Politik ab jetzt aus dem Zuschauerrang zu verfolgen“, sagt Sebastian Kluckert. Nein, Angst habe er keine. Er ist Jurist, habilitieren wolle er sich nun, nebenher bei Kanzleien anklopfen, karrieremäßig endlich ungebremst durchstarten.
Andere, wie Mieke Senftleben, wollen das Gegenteil: „Wenn man wie ich die vergangenen 36 Jahre durchgearbeitet hat“, sagt sie, „ist Ruhe ein Luxus, auf den man sich freut.“ Sie blickt in den stillen Flur. Die Pläne der meisten anderen Kollegen kennt sie nicht. Wie die mit dem Scheitern umgehen, weiß sie nicht. „Wir sind uns nie in den Armen gelegen. Das erlebt bei uns jeder für sich“, sagt sie. „Das Einheitsgefühl habe ich schon manchmal vermisst. Aber in der Politik ist eben jeder ein Einzelkämpfer.“

Ein letztes Mal kommen die elf Ende Oktober zusammen, für einen Abschiedsempfang, diesmal mit allen Mitarbeitern. Das Motto: „Wir kommen wieder.“ Und der Letzte macht das Licht aus.

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