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Gelb-Land. Ein Besuch in Horb am Neckar
Rund 120 Kilometer entfernt von der Grünen-Hochburg Freiburg im Breisgau liegt Horb am Neckar, ein Ort, an dem bei den Europawahlen 43 Prozent der Bürger FDP gewählt haben. Besuch einer liberalen Idylle
Wer in Horb am Neckar dem klinischen Ambiente eines ICE der neuesten Generation entsteigt, wird zur Rechten von einem Parkhaus begrüßt, während vis à vis ein gigantischer Supermarktklotz den Blick beschränkt. Im Bahnhofsgebäude weist ein Schild gleich im Plural auf „Gaststätten“ hin, die aber leider beide geschlossen und verwahrlost sind. Man hätte ein anderes Bild erwartet von dem kleinen Ort, der dem Europawahlergebnis nach so bürgerlich ist wie kein anderer: FDP und CDU konnten hier fast 70 Prozent aller Stimmen einfahren, während SPD und Grüne zusammen knapp am „Projekt 18“ scheitern würden. Liegt der traurige Anblick vielleicht an der rigorosen Sparpolitik, die eine herzlos-neoliberale FDP mit ihrem Rekordergebnis von 43 Prozent ohne Gnade durchsetzt? Verlässt man das Gebäude, steht man urplötzlich mitten in einer etwas kitschigen, aber unbestreitbar wunderschönen Postkarte und merkt: Der erste Blick trügt – die Wahrheit ist widersprüchlicher. Wie so vieles in diesem 26.000-Einwohner-Städtchen mit ICE-3-Anbindung, mit Vollbeschäftigung bei gleichzeitig aussterbender Fußgängerzone, mit gewaltigen Investitionen bei ausgeglichenem Gemeindehaushalt.
Fünfzig Meter unter der Aussichtsterrasse des Restaurants „Zum Schiff“ plätschert der Neckar an Fachwerkfassaden entlang, während Peter nach Schichtende in einer großen Automobilzuliefererfirma sein Feierabendbier genießt. Der Endvierziger teilt gerne seine Zeitung, doch auf die Frage nach dem Lokalteil antwortet er mit einer Gegenfrage: „Schwarzwälder Bote oder Neckarchronik?“ Beide Lokalredaktionen berichten von ihren Büros auf einer kleinen Insel im Fluss aus über das Geschehen im Ort und seinen Bürgermeister Michael Theurer. Sind die derart wohlinformierten Horber denn allesamt Leser Friedrich August von Hayeks und daher begeisterte Ordoliberale? Peter lacht in seinen Bart: „Der Name sagt mir nichts. Aber die FDP ist hier schon ein Personenphänomen. Ich bin selbst vor 20 Jahren wegen der Arbeit hergezogen, aber seit der Michel Bürgermeister ist, herrscht eine richtige Aufbruchsstimmung. Und bei vielen der neuen Projekte sind eben FDP-Leute sehr engagiert dabei. Aber die treibende Kraft dahinter sind immer die Bürger. Das Mini-Rockfestival machen die Kids zum Beispiel inzwischen ganz alleine."
So idyllisch der Ort für Familien mit kleinen Kindern ist, so wenig attraktiv ist das Angebot für Teenager, weshalb die Jugend 2003 einen „Jugendgemeinderat“ forderte. Stattdessen gab es ein „Jugendforum“, wo unter anderem der Wunsch nach einem Rockfestival artikuliert wurde. „Die Kids“, die sich freiwillig meldeten, um einen solchen Event zu organisieren, blieben auch bei der Stange, als es galt, die 25.000 Euro Schulden des ersten Jahres abzutragen. Damals stand ihnen ein Projektmanager aus dem Stadtrat zur Seite, heute verantwortet die nachfolgende Veranstaltergeneration ihren 138.000-Euro-Etat alleine. Dabei sind nicht nur die Anfangsverluste inzwischen zurückgezahlt, man bildet gut schwäbisch bereits Rücklagen für den Umzug auf ein größeres Gelände im kommenden Jahr. Zwei Dutzend Jugendliche zwischen sechzehn und zwanzig sind derzeit aktiv im Verein, dessen Vorsitzender Stefan Lazar gerade mal neunzehn Jahre alt ist. Damit ist er ein typischer Gestalter in einem Ort, in dem der Weg von einer Idee zu ihrer Umsetzung zuallererst zum Registergericht führt. In fast dreihundert Vereinen kümmern sich die Horber um ihre Belange. Wer Kinderbetreuung oder Nachhilfe sucht, wer auf dem Neckar Kanupolo spielen oder sich in der Feuerwehr engagieren will, weiß: Der Ansprechpartner beginnt nie mit „Amt für“ und endet selten mit „GmbH“ – das Beitrittsgesuch geht stattdessen an einen „e. V.“
Über das vitale Vereinswesen konnte Michael Theurer sich schon freuen, als er 1995 gegen alle Erwartungen zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Sein Vorgänger (CDU, katholisch, promoviert, verheiratet, zwei Kinder) hinterließ dem Außenseiter (FDP, evangelisch, Student, ledig) außerdem eine exzellente Beschäftigungsquote, einige gute Gewerbesteuerzahler – und städtische Finanzen kurz vor der Verschuldungsobergrenze. Wäre die überschritten worden, hätte das Regierungspräsidium in Karlsruhe die Geschäfte übernehmen und damit den Handlungsspielraum der Stadt aufs Minimum reduzieren müssen. Wenn man ihn zwischen Umzugskisten sitzend über seine Idee des „Kommunitären Liberalismus“ philosophieren hört, könnte man meinen, das damalige Problem der Stadt wäre Theurers großer biografischer Glücksfall. Mit prall gefüllten Kassen ließe sich auch die engagierteste Wählerschaft nur schwer für ein Staatsverständnis gewinnen, in dem die Gemeinde keinesfalls als „Enderlediger“ auftritt, sondern stets nur als reiner „Ermöglicher“. „Manche Liberale meinen, wenn man den Staat zurückschneidet, werden die Privaten die Sache schon richten. Das stimmt meiner Erfahrung nach aber nicht. Die Rechtsrahmen sind zu komplex, die Bürger überfordert. Der Staat hat also eine wichtige Funktion: Projekte zu begleiten.“ Das funktioniert mal schlechter und mal besser, war aber vor vierzehn Jahren schlicht alternativlos. Eine der ersten Bürgerinitiativen, mit denen der frisch gebackene OB zu tun bekam, wollte das baufällige ehemalige Franziskanerinnenkloster restaurieren. Als Mitglied des Stadtrats, wo über Beträge um die zehntausend Mark gestritten wurde, kannte er die veranschlagte Summe: mehr als fünf Millionen D-Mark. Er sagte: „Schaun mer mal …“ und dachte: „Das ist mutig!“ Der Verein warb tatsächlich Eigenleistungen und Spenden von sechshunderttausend Mark ein – und 2001 konnte dank diverser Zuschüsse ein Kulturzentrum die Räume beziehen. Nie zuvor hat eine Privatinitiative im Ländle ein so großes Projekt organisiert, das sorgte für das Selbstbewusstsein, sich weiteren Aufgaben zuzuwenden.
Theurer sieht im „ermöglichenden Staat“ ein Modell, das auch auf höherer Ebene funktionieren kann, darauf möchte er nun auch im EU-Parlament hinwirken. Doch schon auf kommunaler Ebene liegen Welten zwischen der wohlhabenden Mustergemeinde und strukturschwachen Problembezirken im Rest der Republik, wo die privaten Taschen ebenso leer sind wie die öffentlichen Kassen. Neben ein paar Mülleimern – man könnte dennoch vom Boden essen – ruft ein Schild die Horber freundlich zur Denunziation auf, das in Berlin-Neukölln nicht harmlos-lustig, sondern lächerlich wirken würde: „Kennen Sie das Müllferkel? Es sortiert seinen Müll falsch, stellt seinen Müll neben die Container und macht damit den ganzen Container-Standort ‚zur Sau‘.“ Auch sonst profitiert der Ort von seiner Sozialstruktur: Wer hier glücklich ist, empfindet als wohlige Nähe, was manchen Großstädter unangenehm einengen würde. Schwer vorstellbar, sich hier als Einzelgänger aus dem öffentlichen Leben herauszuhalten und sein eigenes Ding zu machen.
Entsprechend homogen ist die Bevölkerung: Es gibt keine Interessenkonflikte zwischen „oben“ und „unten“, die Bourgeoisie ist lediglich in unterschiedlichem Maß konservativ. Besitzstandswahrer wählen eher die CDU, die auch die stärkste Fraktion im Gemeinderat stellt, progressive Anpacker unterstützen die FDP. Grüne und SPD sind marginalisiert, während bei der Europawahl die Republikaner immerhin dreihundertacht Protestwähler gewinnen konnten.
Die Popularität Theurers bestreiten auch seine Kritiker nicht, doch sein Stil und seine Methoden gefallen nicht jedem: Während er die Bevölkerung durch „Mitsprache und ergebnisoffene Verfahren“ für seine Politik gewonnen haben will, werfen seine Gegner ihm Populismus vor. Jedenfalls verfängt seine Taktik weit jenseits des traditionellen FDP-Klientels. „Bei den 43 Prozent müssen schon rechnerisch auch gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer dabei sein“, sagt Theurer, und der Stammtisch im „Schiff“ liefert sofort den Beweis. Zwar findet man auch hier, der Michel hätte die Innenstadtentwicklung verschlafen, doch sonst wird wenig gemosert. Was hier Ursache und was Folge liberaler Politik ist, zeigen aber wohl erst die Europawahlen in fünf Jahren.
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