- Aufstieg eines Verstoßenen
Am Sonntag könnte in Stuttgart erstmals ein Grüner zum Regierungschef einer Landeshauptstadt gewählt werden. Fritz Kuhn dürfte seiner Partei ihr zweites grünes Wunder bescheren. Dabei ist es die Geschichte eines Düpierten
Es müsste schon mit dem schwarzen Teufel zugehen, wenn es nicht klappen würde. Das wahrscheinliche Szenario sieht eher so aus: Wenn am kommenden Sonntag in Stuttgart die Wahllokale schließen, wird wenig später ein kleiner, schmächtiger Mann mit grauem Stoppelhaar die Arme in die Luft reißen. Die Bürger der 600.000 Einwohnerstadt werden im zweiten Wahlgang Fritz Kuhn zu ihrem Oberbürgermeister gewählt haben. Nach Winfried Kretschmann wird damit in Baden-Württemberg ein Grüner nicht nur das Land regieren, sondern auch die Landeshauptstadt.
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Es wäre ein historischer Triumph für die Grünen – und für die Schwarzen die zweite Schmach in Folge. Nach lebenslang geglaubter Dauerpacht auf die Macht müsste die CDU den zweitprestigeträchtigsten Posten im „Ländle“ abgeben – und das ausgerechnet an die Grünen. Ein Trauma für die Gesamtpartei. Nicht umsonst versuchen Angela Merkel und die CDU-Bundesprominenz es auf den letzten Metern noch abzuwenden mit ihren Wahlkampfauftritten für den schwächelnden eigenen Kandidaten.
So wichtig wie für die schwarze Bundespartei ist das Duell ums Stuttgarter Rathaus aber auch für die grüne. Am Sonntag werden die Grünen gebannt, aber auch bang nach Schwaben gucken. Denn nichts brauchen die Grünen derzeit mehr als vorzeigbare Erfolge. Vordergründig sind sie in diesen Tagen zwar mit der Findung ihrer Spitzenkandidaten vollauf beschäftigt. Im Hintergrund aber lauert längst die Suche nach Wegen aus der Popularitätsdelle. Von astronomischen Höhen sinken die Ökos derzeit Woche für Woche tiefer auf der Umfrageskala. Gerade nähern sie sich von oben der 11-Prozentmarke, die ihnen bei der letzten Bundestagswahl den kleinsten Stuhl auf der Oppositionsbank einbrachte. Besonders bedenklich: vom Niedergang der Piraten-Konkurrenz konnten die Grünen nicht einen einzigen Prozentpunkt profitieren. Im Gegenteil: Die eigene Kurve ging weiter bergab. Und im Gegenzug legen die zum einzig denkbaren Koalitionspartner erkorenen Sozialdemokraten mit ihrem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück nur so minimal zu, dass sie die Grünen kaum mit in eine Regierung hieven könnten.
Weil Misserfolg das Gegenteil von sexy ist, sehnen die Bundesgrünen deshalb einen Erfolg in Stuttgart herbei – nur anders als die CDU lassen ihre Berliner Spitzenleute Kuhns Wahlkampf in Baden-Württemberg Kuhns Wahlkampf sein. Ein Schelm, wer Gutes dabei denkt.
Auf der folgenden Seite: Der bundespolitische Stern Kuhns verglimmt immer mehr
Denn mit Fritz Kuhn könnte am Sonntag ein Grüner in Stuttgart triumphieren, dessen politischer Stern in Berlin immer deutlicher verglimmt. Und der OB-Anwärter verkörpert einen Grünen-Typus, der in der Bundespartei nicht unbedingt als Kult gilt. Kuhn ist Urgestein der Partei. 1980 hat er sie in Baden-Württemberg mit gegründet. Lange Jahre hat er mit klarem realpolitischen Kurs im Südwesten der Republik dafür gesorgt, dass die Ökos ausgerechnet im ländlich-konservativ geprägten Industrieland Spitzenwerte erzielten. Dennoch floh er vor landespolitischem Mief aus Stuttgart in die Bundespolitik. Als engster Vertrauter von „Joschka dem Großen“ wurde „Fischers Fritze“ zusammen mit Renate Künast an die Spitze der Bundespartei gewählt. Er hat die Grünen vorangetrieben als Vordenker, Stratege und Krisenmanager und sie ohne Havarie durch rot-grüne Regierungszeiten manövriert.
Doch mit dem Ende der rot-grünen Ära wurde es langsam einsamer um den klugen Planer und Strippenzieher. 2008 ließ ihn die grüne Basis krachend durchfallen bei der Wahl in den wichtigen Parteirat. Zu realpolitisch galt er da vielen mit seinem Ja zum Afghanistan-Einsatz, zu wirtschaftsnah mit seinen unermüdlichen Konzeptpapieren für eine „grüne Marktwirtschaft“, zu schwarz-grün-verdächtig mit seiner Werteorientierung. 2009 musste Kuhn schließlich auch seinen Posten als Fraktionschef räumen – für den neuen Platzhirsch Jürgen Trittin. Jetzt, im Jahr 2012, ist der 57-Jährige auf das Personalkarussell der Grünen-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl denn auch gar nicht erst aufgesprungen. Er wäre chancenlos gewesen.
Kuhn ist klug genug zu erkennen, dass seine Zeit in der A-Mannschaft der Bundesliga abgelaufen ist, zumal die Jungen in der Partei auf einen Generationswechsel drängen. Sein Wechsel in die Stuttgarter Landesliga ist daher nur bedingt freiwillig. Zugleich könnte Kuhn nun der erste der alten Nachfischergarde sein, der gerade noch rechtzeitig den Absprung auf einen politischen Spitzenposten schafft.
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Wenn die Stuttgarter den Grünen am kommenden Sonntag wirklich auf Platz eins wählen, werden sie einen klugen, engagierten, weltoffenen und zugleich heimatverbundenen Oberbürgermeister bekommen. Einen, der mit dem von ihm erfundenen Slogan „Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben“ vor allem die Innovationsfähigkeit der Stuttgarter Wirtschaft im Blick hat. Einen, der sich von enttäuschten Stuttgart 21-Gegnern auspfeifen lässt und gleichzeitig mit der Deutschen Bahn über den umkämpften Tiefbahnhof streitet. Einen, der die innerstädtischen Mieten begrenzen will und eine Vision für das Neckarufer entwirft, damit wieder Hölderlin'sche Heimatgefühle aufkommen.
Ein grüner Oberbürgermeister Kuhn wird für Baden-Württemberg ein bisschen sein wie ein grüner Ministerpräsident Kretschmann, nicht ganz so volkstümlich vielleicht, nicht ganz so konservativ und nicht ganz so christlich. Aber halt so wie die Menschen in Baden-Württemberg die Grünen mögen – unangefochten von allen bundespolitischen Umfrageflauten. Aber auch so, wie sie nicht tonangebend sind in der Gesamtpartei der Grünen. Kuhns Wahl würde ein zweites Mal die Deutungshoheit der CDU über eine konservativ, prospierende, aber sich auch weiterentwickelnde Region brechen. Das könnten die Grünen zu Recht feiern. Kuhns Erfolg wäre ein weiterer Schritt ins grüne Musterländle – Betonung auf „Muster“ im Sinne von Unikat und nicht von Vorbild.
Als republikweiter Prototyp für grüne Erfolge taugt die Wahl in Stuttgart allerdings nicht. Denn Baden-Württemberg tickt anders als Köln oder Berlin. Die Grünen dort haben das verstanden. Schon vor Jahren haben sie begonnen, sich für neue Wählerschichten in der bürgerlichen Mitte zu öffnen. Auf Bundesebene jedoch drehen Trittin und Co. die Scharniere vor der nächsten Bundestagswahl gerade kräftig in Richtung rot-grüne Stammklientel. Feiern will man die Erfolge im Südwesten nur allzu gern. Nur lernen will man nicht daraus.
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