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Flucht und Migration - Es ist Zeit zu handeln

Kisslers Konter: Deutschland und Europa werden auf Sicht regiert und nach dem Prinzip des kleinsten Widerstands. Angesichts der Flüchtlingsfrage aber hat sich das Politikmodell Merkels überlebt. Entscheidungen sind nun gefragt, nicht Kungelrunden

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Europäische Union ist der viel zu große Mantel für Kleinstaaterei und Nabelschau und der deutsche Föderalismus eine Schönwetterveranstaltung unter dem Patronat von St. Nimmerlein: Diese trüben Wahrheiten bringt die gesamteuropäische Flüchtlings- und Asylbewerberkrise an den Tag.

Stündlich hören wir von neuen, steigenden Migrantenzahlen, von wachsender Not in den Herkunftsländern, von explodierenden Kosten in den Zielregionen und beschämenderweise von Straßengewalt, Hassparolen, Anschlägen, menschenfeindlichen Ausnahmezuständen vor Flüchtlingsheimen. Ein gewaltbereiter deutscher Mob will sein Mütchen an den Schwächsten kühlen. Das ist widerwärtig, verlangt nach einem kompromisslosen Rechtsstaat und zeigt auch, wie weit die Entchristlichung in Deutschland vorangeschritten ist.

Unbeschadet der Frage, dass bei einer Gesamtbetrachtung weder die Regierungen des Balkans geschweige denn jene Afrikas aus der Verantwortung entlassen werden können – Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation „Grünhelme“ zufolge ist es den meisten afrikanischen Regierungen „total egal, was mit ihren jungen Leuten geschieht (…). Es gibt noch keine einzige Bekundung der Trauer und der Traurigkeit eines afrikanischen Staatschefs (…) über dieses furchtbare Los von mittlerweile über 20000 Ertrunkenen.“ Davon völlig abgesehen, bedeuten die Flüchtlingsströme allgemein für Europa und speziell für Deutschland eine derart gravierende Herausforderung, dass selbst eine bestens vorbereitete, ebenso weitsichtige wie kluge Regierung an die Grenzen des Machbaren stieße.

Nordrhein-Westfalen nimmt mehr Flüchtlinge auf als Frankreich
 

Davon aber kann keine Rede sein. Das regierungsamtliche Handeln der letzten Jahre und Jahrzehnte gehorchte sowohl in Brüssel wie in Berlin dem Dreisprung des Desinteresses: Durchwursteln, Fünfe gerade sein lassen, Fahren auf Sicht. Damit wird die Krise nicht zu lösen sein. Hoch symptomatisch ist es, dass die Bundeskanzlerin zwar an der Seite von Finanzminister Steinbrück einst die Sicherheit der deutschen Bankeinlagen bekräftigte, Innenminister de Maizière nun aber allein verkünden ließ, quasi über Nacht habe sich die Zahl der erwarteten Asylbewerber verdoppelt: ein kommunikatives Desaster der sonst medienklugen Merkel. Wird man je von ihr eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede hören?

In Deutschland erklären die Länder, sie seien überfordert, der Bund, der über einen rekordverdächtigen Überschuss jubelt, müsse zahlen. Für neue Unterbringungen, für Unterstützungen, für Lehr- und Wachpersonal. In der Tat läuft etwas schief, wenn nach dem „Königsteiner Schlüssel“ das ökonomisch gebeutelte und unter Integrationsproblem eh schon ächzende Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr bisher 41.246 Asylbewerber aufnehmen musste, Bayern hingegen 33.817.

Noch mehr läuft schief, wenn diese Zahlen bedeuten, dass das bevölkerungsreichste Bundesland, worauf Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hinwies, „mehr Flüchtlinge aufnimmt als Frankreich“. Und erst recht läuft etwas schief, wenn es beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge „zu wenig Entscheider“ gibt, die Verfahren zu lange dauern und bei einem negativen Entscheid zu zögerlich abgeschoben wird. Ein Asylrecht, das seinen Namen verdient, ist auf zügige Rückführung angewiesen.

Ruf nach schnelleren Entscheidungen
 

Hannelore Krafts Ruf nach Entscheidern und nach raschen Entscheidungen mag in einigen Punkten auf sie selbst zurückfallen: Falsch ist er nicht. Das politische Deutschland funktioniert bis in die Gegenwart hinein als Kungelrunde und lange Bank. Auf europäischer Ebene wiederholt sich das Trauerspiel. Im Angesicht der Migration rechnen die Länder sich nach Belieben klein, erklären sich für nicht zuständig oder bereits überfordert und pflegen jene Nationalismen, die durch die Europäische Union überwunden sein sollten.

Wie schon in der Euro- und Griechenlandkrise zeigt sich in der Flüchtlings- und Asylbewerberkrise, dass Solidarität zum Lippenbekenntnis zusammenschnurrt, sobald die eigene Brieftasche tangiert ist. Wollte man zynisch sein, so lautete das Verdikt, das die Länder Europas über sich verhängen: Völkerverständigung ist schön, können wir uns nur gerade nicht leisten. „Bedaure, nicht mein Tisch“, sagen in gleicher Denkungsart übellaunige Kellner zu unerwünschten Gästen.

Deutschland wird für Asylbewerber 2015 rund acht Milliarden Euro ausgeben, „allein für Versorgung und Unterkunft“. Daran erinnert Barbara John, bis 2003 Ausländerbeauftragte des Berliner Senats. Sie appelliert vor diesem Hintergrund, die hohen „deutschen Asylstandards“ nicht zum europaweiten Maßstab zu erheben; das sei pures „Wunschdenken“. Widrigenfalls hätten wir „jahrelang viele anerkannte Flüchtlinge in gut kontrollierten Einrichtungen bestens versorgt, geschützt, gesichert und betreut. Das wäre fast ein neuer Fluchtgrund.“ Der EU rät John, „für den Balkan ein großes Hilfsprogramm“ aufzulegen, um die Auswanderungsgründe zu mildern. Deutschland solle bereits in seinen europäischen Konsulaten und Botschaften Asylanträge annehmen dürfen. Auch so könnte die Dynamik der Fluchtbewegungen abnehmen.

Druck noch nicht groß genug
 

Ob es dazu kommt? Vermutlich ist der Druck auf den Kessel noch nicht groß genug, um das Schwarze-Peter-Spiel der Schuldzuweisungen abzubrechen. Die knappe Million Asylbewerber, mit denen Deutschland für 2015 rechnet und von denen weniger als die Hälfte anerkannt werden dürften, wird das reiche Land stemmen.

Was aber, wenn die Zahlen 2016 sich in ähnlichen Höhen bewegen werden? Und Nachbarn sich weiterhin weigern, ihr gerechtes Scherflein beizutragen? Spätestens dann wird sich zeigen, dass ein entscheidungsschwaches Land und ein gespaltener Kontinent die Zukunft verspielen und ihre Rücklagen aufzehren, wenn sie nicht beizeiten in die Schule der Solidarität gehen. Realismus ist der Anfang von allem.

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