- Jack Sparrow, Oskar Matzerath und das Grass-Gedicht
Wer hat eigentlich das neueste Gedicht von Günter Grass über „Europas Schande“ geschrieben? Ein Verwirrspiel erregt die Kulturnation und Griechenland geht trotzdem pleite
Die „letzte Tinte“ des Nobelpreisträgers Günter Grass ist noch nicht vertrocknet. Wer wollte das ernsthaft beklagen? Mit gravitätischer Geste hat er pünktlich zum Pfingstfest in der Süddeutschen Zeitung Europas Schande in einem Gedicht beklagt: Die schöne Buhle des stiernackigen Zeus habe das Land ihrer mythischen Herkunft schändlich verlassen. Griechenland, das inselgesegnete, stehe nun als Schuldner nackt am Pranger, ein „rechtloses Land“ (stimmt!) – jenes Land, das einst heimgesucht wurde von deutschen Soldaten, „Hölderlin im Tornister.“ Dieser große, arme Dichter aus dem Tübinger Turm – auch er wird also haftbar gemacht für Griechenlands Staatspleite, wie natürlich die ominöse Macht der Märkte, die erbarmungslos eine ganze Nation, so Grass in holprigen Hexametern, zum „Schrottwert“ taxiere.
Nun gut, mag sich die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, gedacht haben, als sie – prosaisch wie sie ist – die Griechen aufforderte, kaum hatte sie das Grass-Gedicht nicht gelesen – „sich selbst zu helfen und Steuern zu zahlen.“ Und der Tourismus-Konzern TUI empfahl seinen Kunden, neben Hölderlin und Badetuch auch Bargeld mitzunehmen, wenn sie, das Land mit der Seele suchend, gen Athen aufbrechen.
Die Leser der Süddeutschen Zeitung in ihrem bayerischen Verbreitungsgebiet saßen bei hochsommerlicher Hitze in den Biergärten, wo schon große Gedichte entstanden sind: „Summer surprised us coming over the Starnberger See“ heißt es zum Beispiel bei T.S. Eliot, als er einmal im Münchner Odeon-Café auf der Terrasse vor einem Glas Bier saß und dichtete, dass es eine wahre Pracht war. Als nun die Münchner Feingeister das pfingstliche Feuilleton ihres gehobenen Lokalblattes aufschlugen, verdarb ihnen der Dichter die Feiertagslaune. Schämt euch!, ihr laschen Europäer, wollte er ihnen zurufen, denn weiter südlich, hinter den Alpen, geht ein großes Land zugrunde. Während Israel, wie wir alle inzwischen wissen, einen nuklearen Erstschlag plant. Was auch einmal gesagt werden musste.
Aber dann brach das große Gelächter aus. Auf den Blackberrys und iPhones blinkte eine Eil-Meldung der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Nicht Günter Grass, sondern die unermüdlich geschmacklosen Redakteure der Satirezeitung „Titanic“ hätten das faktenfreie Gedicht verfasst und die Pressbengel der SZ seien darauf reingefallen. Ganze Biergärten verwandelten sich in Komödienstadl, nationale Lachfalten breiteten sich bis nach Norddeutschland aus. In sommerlichen Kirschgärten erklangen heitere, ja grölende Rezitationen des Gedichts aus Leichtmetall, und in Griechenland bedankte sich der Kulturminister bei dem Nobelpreisträger. Da war es endlich wieder – das heitere Europa, das sich selbst nicht mehr so ernst nimmt.
Aber dann nahm die lyrische Sommerpause ein tragisches Ende: Das Gedicht, so ließ sich dank einer Originaltonaufnahme unmissverständlich beweisen, stammte doch vom Originalnobelpreisträger persönlich. Die Frankfurter Kollegen hatten auf eine Narretei eine zweite gesetzt. In der satireungewohnten Republik setzte, wie sonst, sofort eine ethische Diskussion ein: Darf man eine Falschmeldung, die als solche nicht erkennbar war, in Umlauf bringen? Aber ja, meinte der zuständige FAS-Redakteur und schämte sich nicht. Er hat recht, mehr noch – tat er dies nicht, um Günter Grass vor sich selbst zu schützen? Er entwand ihm die Urheberschaft – ganz im Geist der Piratenpartei, ein Johnny Depp alias Captain Jack Sparrow des Kulturbetriebs, und nobilitierte die Titanic-Redaktion. So war beiden gedient. Denn zweifellos ist das Griechenland-Poem das Zweitärgste, was sich der Dichter in seinem langen Leben selbst angetan hat. Schlimmer noch – wahrscheinlich empfanden dies die Münchner SZ-Feuilletonisten genau so, als sie den reimlosen Aufschrei des Nobelpreisträgers abdruckten, tückisch und boshaft, wie sie sein können.
Also lehnen wir uns heute zurück und fragen uns, wie es kommt, dass jene Titanic-Kollegen regelmäßig unter dem Namen Marcel Reich-Ranicki in der FAS Leserberatung betreiben dürfen? Und wer genau verbirgt sich hinter dem Namen Frank Schirrmacher? Ein Neurologe, ein Informatiker, ein Panzer-Grenadier? Ach, wir leben in einer Grauzone verschwimmender Identitäten, das ganze Internet ist nichts anderes als ein Versteckspiel, in der Gesichter, Namen und Adressen nicht mehr wert sind als ein Gedicht mit allerletzter Tinte. Und wo wir schon herumrätseln: Wer hat eigentlich Oskar Matzerath erfunden, jenen kleinen Junge aus Danzig, der sich weigerte, groß zu werden, um mit schriller Stimme Fenstergläser zu zersingen? Demnächst mehr dazu in der „Titanic.“
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