- „Wollen wir die Marketing-Überwachungsgesellschaft?“
Erstmals seit 20 Jahren hat sich die EU auf einen einheitlichen Datenschutz verständigt. Nutzer bekommen damit künftig ein Recht auf Vergessenwerden und können sich leichter gegen Verstöße von Internetfirmen wehren. Der Verhandlungsführer des Europaparlaments, Jan Philipp Albrecht, sprach im November mit Cicero über die Reform und nannte die nervigsten Lobbyisten
Der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht ist Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die geplante Datenschutz-Grundverordnung. Er ist ab 12. November in dem Dokumentarfilm „Democracy – Im Rausch der Daten“ zu sehen.
Herr Albrecht, Sie kämpfen für einen besseren Datenschutz in der EU. Ihr Gesetzentwurf, der bis zum Jahresende verabschiedet werden soll, ist in den sogenannten Trialog-Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament, Kommission und Rat Stück für Stück aufgeweicht worden. Werden die Bürger Europas zu Nikolaus nur noch eine Rute bekommen?
Hoffentlich nicht. Aber das hängt vom politischen Willen aller Beteiligten ab. Wenn die Bundesregierung und die anderen EU-Mitgliedsstaaten stur bleiben, wenn also diese Abschwächungen des Datenschutzes drin bleiben, dann wird es schwierig.
Laut den Vorschlägen des Ministerrates, die der Spiegel einsehen konnte, brauchen Unternehmen bald keinen Datenschutzbeauftragten mehr zu benennen. Sie müssen nicht einmal mehr jede Datenpanne melden.
Ja, das sind leider Kompromisse, die unter den Mitgliedsstaaten geschlossen werden. Damit würde das Niveau an Datenschutz, das wir in Deutschland haben, nicht mehr gewahrt. Aber glücklicherweise gibt es ja das Europäische Parlament. Das hat sich mit 95-prozentiger Mehrheit für eine Meldepflicht und für betriebliche Datenschutzbeauftragte in allen Unternehmen ausgesprochen. Die Frage ist jetzt, wie stark der öffentliche Druck auf die Regierungen ist. Leider gibt es noch nicht genug Aufmerksamkeit für dieses Gesetz – weder in Deutschland noch in Europa. Und Datenschutz ist ein technisches, abstraktes Thema. Aber was wir hier tun, ist weltweit einmalig, und wird für 28 Mitgliedsstaaten gelten.
Wie das in der EU abläuft, kann man in diesen Tagen erstmals im Kino sehen: „Democracy – Im Rausch der Daten“ ist ein hochspannender Dokumentarfilm, für den Regisseur David Bernet Sie zweieinhalb Jahre lang begleitet hat. So nah ist noch kein Filmemacher je der EU-Lobbymaschine gekommen.
Ich hoffe, dass diese Doku vermittelt, wie relevant das alles ist. Denn es geht hier nicht nur um den Datenschutz, sondern auch darum, dass die europäische Demokratie lebhafter wird, dass die Menschen mitreden.
[video:Trailer: Democracy – Im Rausch der Daten]
In dem Film heißt es, dass Sie mit Ihrer Datenschutz-Grundverordnung einen neuen Rekord gebrochen haben. Für den Gesetzentwurf habe es fast 4000 Änderungsanträge gegeben, so viele wie noch nie in der Geschichte der EU. Was waren das für Leute, die bei Ihnen angeklopft haben?
Vor allem Unternehmen. Die verdienen mit unseren Daten sehr, sehr viel Geld. Natürlich haben auch Verbraucherschutzverbände und Bürgerrechtler Wünsche formuliert. Aber mehr als 80 Prozent der Anfragen kamen von der Wirtschaft.
An einer Stelle haben Sie sogar gedroht, die Verhandlungen platzen zu lassen: als es um die Zweckbindung ging – also um die Frage, ob persönliche Daten im Internet auch dort genutzt werden dürfen, wo die Verbraucher nicht zugestimmt haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Das war ein Beschluss des Ministerrats. Der hätte die Zustimmung des Verbrauchers völlig obsolet gemacht – und das Grundrecht auf Datenschutz unterwandert. Offensichtlich wollte man hier vor allem den Interessen von Unternehmen nachkommen.
Wie oft kann man in solchen Verhandlungen drohen?
Das geht natürlich nicht häufig, denn der politische Druck ist groß, endlich einen Kompromiss zu bekommen. Die aktuelle Situation ist für alle absolut unbefriedigend.
Warum?
Weil momentan noch in allen 28 EU-Ländern unterschiedliche Regeln gelten. Gerade deutsche Unternehmen, die sich an einen hohen Datenschutzstandard halten müssen, sind absolut im Nachteil gegenüber Silicon-Valley-Unternehmen, die sich in Irland oder Luxemburg niederlassen, um vor der Steuer zu fliehen und geringere Datenschutzstandards auszunutzen. Auch für die Verbraucher ist es furchtbar. So musste der Österreicher Max Schrems gegen Facebook in Irland klagen – in einer für ihn fremden Rechtsordnung und Sprache – um dann vorm Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu landen. Ein solches System sorgt nicht gerade für Vertrauen.
Ist es in Europa nicht mittlerweile einzig die Justiz, die die Bürger wirklich schützt? Sei es das Ende von „Safe Harbor“ oder der Vorratsdatenspeicherung, sei es das „Recht auf Vergessen“: Immer waren die Richter am Europäischen Gerichtshof schneller als die Gesetzgeber.
Ja, das ist ein Armutszeugnis für die Politik. Deswegen muss die Politik endlich in die Puschen kommen und zeigen, dass wir die Grundrechte auf europäischer Ebene verankern. Dafür ist die Datenschutz-Grundverordnung einer der wichtigsten Bausteine.
Die EU hat die Vorratsdatenspeicherung in gerade mal sechs Monaten beschlossen. Bei der Datenschutz-Grundverordnung sind wir jetzt im 46. Monat. Warum geht es in Brüssel so viel schneller, Grundrechte zu schleifen als sie zu stärken?
Als die Vorratsdatenspeicherung durchgepeitscht wurde, gab es zwei Terroranschläge: in Madrid und in London. Und da war öffentlicher Druck, irgendetwas zu liefern – wenn auch das Falsche. Wir müssen uns fragen: Wie können wir einen ähnlichen Handlungsdruck schaffen, um Grundrechte und Verbraucherinteressen zu stärken? Dafür braucht es auch eine funktionierende Öffentlichkeit, die solche Themen bearbeitet.
Ist Datenschutz nicht sexy?
Er ist in jedem Fall sexy. Es geht um die Grundfragen unserer digitalen Zukunft. Es geht darum, ob ich selbstbestimmt im Internet handle oder ob ich zum Produkt gemacht werde. Ob mir die Daten wie Geldscheine aus der Tasche gezogen werden.
Herr Albrecht, gäbe es einen Punkt, eine rote Linie, wo Sie nochmals sagen würden: Dafür würde ich alles aufs Spiel setzen? Fast vier Jahre Verhandlungen?
Das Parlament und die damalige Justizkommissarin Viviane Reding haben einen solchen Punkt definiert: Wir wollen, dass diese Verordnung keinen niedrigeren Datenschutz-Standard schafft als die bisherige Rahmenrichtlinie von 1995.
Aber welche Punkte sind für Sie unverhandelbar?
Sicher gibt es Punkte, wo wir hart bleiben wollen. Nur sind wir mitten in den Diskussionen, da möchte ich nicht noch weitere Hindernisse aufbauen, sondern verhandlungsbereit sein.
Wer ist der nervigste Lobbyist? Ihr größter Widersacher?
Aus meiner Sicht sind das zwei: zum einen die größte Handelskammer der Welt, die American Chamber of Commerce. Zum anderen eine sehr hartnäckige Marketingbranche aus Deutschland.
Aus Deutschland?
Ja. Dazu gehören Kreditabschätzungsunternehmen und auch das Verlagswesen, Konzerne wie Bertelsmann, der mit seinen Töchtern Arvato und der Auskunftei Infoscore Consumer GmbH sehr, sehr viele Daten über uns sammelt, ohne dass wir jemals dazu befragt werden.
Gehören die Verbände der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger auch dazu?
Ja, auch die sind am Lobbying beteiligt. In Deutschland nehmen viele Unternehmen die Verbraucher nicht ernst. Auf dem Verlegertag hat sich Angela Merkel einschlägig dafür ausgesprochen, dass die Verdienstmöglichkeiten über den Datenschutz gestellt werden sollen. Wir müssen uns fragen: Wollen wir die Marketing-Überwachungsgesellschaft?
Vor einer Woche hat das Europäische Parlament die Grundlagen für ein Zwei-Klassen-Internet geschaffen. Wie konnte das Thema Netzneutralität einfach so durchrutschen?
Das fragen mich jetzt ganz viele. Das ist aber nicht „einfach so durchgerutscht“. Das war ein dreijähriges Verfahren. Leider wurde erst berichtet, als es schon zu spät war. Diese Verordnung regelt nun, dass Telekommunikationsanbieter Spezialdiensten eine bevorzugte Behandlung anbieten dürfen – auf Kosten der Verbraucher und aller anderen Wettbewerber. Der Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, hätte wissen müssen, dass die Spezialdienste überhaupt nicht so konkret definiert sind, wie er das immer in den Medien behauptet hat.
Hat Oettinger fahrlässig gehandelt?
Grob fahrlässig. Er trägt dafür die Verantwortung. Er vertritt die europäische IT-Wirtschaft. Das sind vor allem kleine und mittelständige Unternehmen, die durch eine solche Entscheidung massiv benachteiligt werden. Während sich künftig die großen Anbieter den privilegierten Zugang zum Netz erkaufen können, schaffen die kleinen den Marktzugang überhaupt nicht mehr. Ich finde, dass Oettinger angesichts dieses schwerwiegenden Fehlers zurücktreten sollte.
Wo waren die Grünen bei der Netzneutralität?
Wir haben seit 2013 vor der Entwicklung gewarnt und sogar zwischenzeitlich Mehrheiten gewonnen. Doch dann gab es einen Hinterzimmer-Deal. Das Parlament hat dafür gestimmt. Wir haben eine Reihe von Änderungsanträgen eingebracht, aber leider überall 200 zu 400 verloren. Und so sieht's dann aus. Das ist Demokratie. Das Problem ist, wie anfangs gesagt: Die kritische öffentliche Debatte begann erst, als unsere Änderungsanträge abgelehnt wurden.
Also höre ich da auch Medienkritik heraus?
Die habe ich schon eingangs versucht, so zurückhaltend wie möglich zu formulieren. Aber das ist auch eine Aufgabe der nationalen Parteien und Politiker. Herr Lammert und der Bundestag stehen in der Pflicht, die Europapolitik stärker in die Öffentlichkeit zu tragen.
David Bernets Dokumentarfilm „Democracy – Im Rausch der Daten“ kommt am 12. November 2015 in die deutschen Kinos.
Fotos: Indi Film – David Bernet, Europäisches Parlament 2015, picture alliance
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