Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Die markanten roten Roben des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe

Bundesverfassungsgericht - Erste Adresse für Querulanten

Über 6000 Verfassungsbeschwerden erreichen das Bundesverfassungsgericht jedes Jahr. Jetzt wollen die Karlsruher Richter eine Gebühr erheben, um Querulanten abzuschrecken

Die Antwort ist knapp, gerade mal eine Seite lang. „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.“ Punkt. Darunter die Unterschriften von drei Verfassungsrichtern. Und der Hinweis: „Die Entscheidung ist unanfechtbar.“ Rainer Hoffmann betrachtet verächtlich das amtlich gesiegelte Papier. „Nicht einmal eine Begründung.“ Er streicht sich über den Kopf: „Das Bundesverfassungsgericht verweigert mir mein verfassungsmäßiges Recht.“

Hoffmanns verfassungsmäßiges Recht hat eine Adresse: Schlossbezirk Nummer drei in Karlsruhe. Wer sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, kann dorthin schrei­ben und Beschwerde einlegen. Doch für viele Bürger ist das oberste Gericht nur ein Kummerkasten. Mehr als 6000 Beschwerden landen hier jedes Jahr, die meisten davon haben keine Aussicht auf Erfolg.

Trotzdem müssen alle Briefe gelesen und beurteilt, die Beschwerdeflut kanalisiert, die aussichtslosen von den begründeten Fällen unterschieden werden. Das macht Egon Hiegert. Er hat auch Hoffmanns Anliegen gesichtet und weitergereicht. Hiegert, ein rundlicher Mann mit ausgeglichenem Gemüt, ist der Eingangsbeamte. Man könnte ihn (freundlich) den Schleusenwärter des höchsten Gerichts nennen oder (weniger freundlich) den Türhüter, der in Franz Kafkas makabrer Parabel „vor dem Gesetz“ steht und „den Mann vom Land“, der sich nach seinem Recht erkundigen will, so lange vor der Tür warten lässt, bis er stirbt.

Bis zu 80 Fälle bekommt Hiegert täglich auf seinen Schreibtisch, auf dem an der einen Ecke eine Europafahne steht. Er scheidet die hoffnungslosen Beschwerden von jenen, die juristische Substanz haben könnten.
Die ganz abseitigen landen gleich im allgemeinen Register, einem schmalen Raum mit Regalflächen, auf denen lauter gelbe Kladden liegen: Briefe und Faxe von Leuten, die berichten, man habe ihnen einen Chip ins Gehirn implantiert oder sie sähen Engel. Eine Frau fordert für einen erlittenen Missbrauch eine Milliarde Schadenersatz. Andere sehen ihre Bürgerrechte verletzt, weil in ihrem Stadtviertel Tempo 30 eingeführt wurde oder weil sie beim Falschparken erwischt wurden. Manche Schriftsätze sind in Versform verfasst, andere bemalt. Neulich bekam Hiegert eine Beschwerde mit einem großen Smiley drauf: „Ruf doch mal an.“ Er muss alles lesen, bis zur letzten Seite.

Es gibt die eindeutigen Fälle. Da wurden ganz offensichtlich die strengen Fristen nicht eingehalten, oder die Person ist nicht klageberechtigt, weil sie von dem behaupteten Verstoß gegen die Verfassung nicht selbst betroffen ist. Aber die Erfolgsquote ist gering. Selbst bei denen, die nicht gleich aussortiert, sondern an die Richter weitergereicht werden, liegt sie bei gerade mal 2,7 Prozent. Hiegert, selbst jahrelang Zivil- und Strafrichter, sagt lakonisch: „Es gibt viele Möglichkeiten, hier zu scheitern.“

Der Schleusenmann schlurft die Regalreihen mit den gelben Kladden entlang. In einer dieser gelben Kladden liegt auch Rainer Hoffmanns letzte Verfassungsklage. „Verfassungsbeschwerde“, korrigiert Hoffmann. Er hat in den vergangenen Jahren gelernt, genau zu formulieren. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer eines sauber geklinkerten Einfamilienhauses in Recklinghausen. Hinter ihm stehen Aktenordner in zwei Reihen. Man könnte sagen, es ist sein Lebenswerk. Er würde sagen, zwischen den Aktendeckeln liegen die Beweise dafür, dass sich Richter, Anwälte und Behörden gegen ihn verschworen haben.

Lesen Sie weiter, warum es so leicht ist, in Karlsruhe zu klagen...

Angefangen hat Hoffmanns Kampf vor 15 Jahren. Damals setzte er sich eine thermische Solaranlage auf das Dach zur Erwärmung des Trinkwassers und, wie er glaubte, auch zum Heizen. Hoffmann sagt, die Anzeige und die Prospekte hätten in diesem Punkt bewusst in die Irre geführt, er sei betrogen worden. Er weigerte sich, die 15 000 Mark teure Anlage zu bezahlen. Es war der Beginn einer Flut von Klagen, Vergleichen, Unterlassungserklärungen, Petitionen und Schriftverkehr, in deren Verlauf Hoffmann zum Solarkritiker und Amateurjuristen wurde.

Es lässt sich heute nicht mehr leicht rekonstruieren, ob Hoffmann damals mit der Solaranlage wirklich getäuscht wurde oder sich nur getäuscht hat. Doch mit jedem Misserfolg vor Gericht ist der Fall immer größer geworden. Inzwischen vermutet er den ganz großen Solarschwindel, bei dem Richter, Anwälte und das Justizministerium gemeinsam die Fäden ziehen. Auch das Fernsehen berichtet über ihn. Amtsgericht, Petitionsausschuss, Presse, eine ausufernde Website, auf der er seinen Fall und den Solarschwindel im Detail ausbreitet.

Hoffmann schöpft alle Möglichkeiten aus. Er reicht Petitionen im nordrhein-westfälischen Landtag ein, gegen den „Richterbetrug“ an den Amtsgerichten Gelsenkirchen und Bochum. Irgendwann stößt er auf dieses Aktenzeichen 4121 E-III 372/98. Es stand in einem der zahlreichen Behördenbriefe. Eine Akte beim Justizministerium in Düsseldorf, in der offenbar seine zahlreichen Briefe, Beschwerden und Klagen gesammelt werden. Hoffmann verlangt vollständige Einsicht in diese Akte, die ihm aber nur teilweise gewährt wird. Seitdem spricht er von „der Geheimakte“. Er wolle sie sehen, dann werde offenbar, was die Justiz seit Jahren mit ihm mache und welche Drahtzieher dahinterstehen. Über all dem hat der ausgebildete Buchprüfer seinen gut bezahlten Job als Prokurist in einem mittelständischen Unternehmen verloren. Heute sitzt er, wie er sagt, auf einem „Arsch voll Schulden“, kann sein Haus nicht mehr abbezahlen. „Hartz IV nehme ich ganz bewusst nicht“, sagt er.

[gallery:Nürnberger Prozesse]

Auf vier Verfassungsbeschwerden hat er es inzwischen gebracht. Selbst formuliert, manchmal sogar mit Fotos und Internetlinks angereichert. Jeder dieser Schriftsätze zieht umfangreiche Briefwechsel nach sich. Andere haben es auf 700 Eingaben gebracht. In der Gerichtsverwaltung nennt man sie die „Stammkunden“. Solche ungebetenen Stammkunden kennt jedes Gericht. Menschen, die es sich zum Lebensinhalt gemacht haben, Strafen nicht zu zahlen, der Justiz Fehler nachzuweisen oder die immer wieder versuchen, ihren Fall neu vor Gericht zu bringen.

Jeder fühlt sich im Recht. Und jeder darf sich an die Richter in Karlsruhe wenden. „Kein Verfassungsgericht der Welt macht es seinen Bürgern so leicht zu klagen“, sagt Hiegert. Man brauche keinen Anwalt, nicht einmal ein Formblatt müsse ausgefüllt werden. Die Verfassungsbeschwerde sei das Kronjuwel der Verfassung, der Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür. Aber das könne nur funktionieren, wenn dieser Zugang nicht verstopft wird. Manchmal, sagt Hiegert, sei das Aufkommen nur noch schwer zu bewältigen. Das Förderband laufe immer weiter.

Lesen Sie weiter über ältere Herren, die viel Zeit haben, Gesetzte zu studieren...

Dem will das Gericht jetzt einen Riegel vorschieben. Eine sogenannte „Mutwillgebühr“ soll erhoben werden. Sie soll hartnäckige Querulanten davon abhalten, ihre Beschwerde auch dann weiterzubetreiben, wenn sie von Hiegert schon als offensichtlich unbegründet abgewiesen wurde. Bisher genügte es, wenn der Beschwerdeführer einfach nur Widerspruch dagegen einlegte. Tat er dies, mussten drei Richter über seinen Fall entscheiden. Künftig soll ein Verfassungsrichter nur dann damit betraut werden, wenn der Beschwerdeführer eine seinem Einkommen angemessene Gebühr bezahlt. Die Gebühr soll „spürbar, aber leistbar“ sein, heißt es bei Gericht. Von maximal 5000 Euro ist die Rede.

Kritiker sehen die Gefahr, dass damit der Zugang zu dem versperrt wird, was Egon Hiegert die Kronjuwelen des Rechtsstaats nennt. Die Süddeutsche Zeitung kritisierte, der Vorschlag sei nur deshalb zustande gekommen, weil immer mehr Verfassungsrichter von Haus aus Rechtsprofessoren seien, die das routinierte Abarbeiten von Akten nicht gewohnt sind: „Ein Gericht hebt ab“, so das ungnädige Urteil.

Aber es gibt Druck von außen, die Verfahren zu straffen. Schon hat sich das höchste deutsche Gericht vom Gerichtshof für Menschenrechte eine Rüge eingefangen – wegen überlanger Prozessdauer. Ausgerechnet die Straßburger, maulen Mitarbeiter auf den Fluren von Karlsruhe, der Menschenrechtsgerichtshof schiebt doch selbst Tausende Verfahren vor sich her.

Andreas Voßkuhle, der junge, emsige Gerichtspräsident, hat die Reform zu seiner Sache gemacht und versucht, in Berlin die Politik für seine Idee einzunehmen. Er sagt: „Zu späte Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit.“
„Klarer Verfassungsbruch“ sei die Gebühr, befindet hingegen Bernd Schreiber. Zusammen mit Werner Korte sitzt er in der Kneipe „Zum Manni“ in Gelsenkirchen. Sie sind Verbündete im Kampf gegen die Justiz. Korte hatte schon einen Berg von Verfahren wegen der Betreuung seiner Kinder. Derzeit kämpft er gegen eine Mieterhöhung und beschäftigt damit diverse Gerichte. Schreiber, seit seiner Kindheit gehbehindert, streitet gegen die schlechte Behandlung von Behinderten im öffentlichen Nahverkehr und hat sich als allgemeiner Justizkritiker im Raum Gelsenkirchen einen zweifelhaften Namen gemacht.

Er geht gerne mal zu Gerichtsverhandlungen mit einem T‑Shirt, auf dem „Prozessbeobachter“ steht, und betreibt eine Website mit dem suggestiven Titel www . beamtendumm . de, auf der er die Verfehlungen von Richtern und Beamten auflistet und süffisant kommentiert. Meistens treffen sich die beiden Herren in einem Gemeindezentrum in Wuppertal zusammen mit anderen Aktivisten der Betrugsopferhilfe.

Es sind zumeist ältere Herren, die viel Zeit haben, um Gesetze und Verordnungen zu studieren, akribisch genug, jeden vermeintlichen oder tatsächlichen Verfahrensfehler anzuprangern und die Justiz mit ihren eigenen Waffen zu ärgern. Sie streiten gegen Willkür, tauschen per Internet Tipps zur Strafprozessordnung aus und erarbeiten Verbesserungsvorschläge für die deutsche Justiz. Es kursieren Expertisen, oft von pensionierten Amtsrichtern, aus denen neue Schriftsätze gestrickt werden können, in denen sie das Recht auf richterliches Gehör einklagen oder auf das Fehlen eines gesetzlichen Richters verweisen. Wenn sie sich treffen, zeigen sie sich ihre Schriftwechsel wie Trophäen vor. Sie streiten dann über juristische Details und werfen sich manchmal auch wechselseitig vor, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen.

Lesen Sie weiter: Hilft eine Gebühr gegen Querulanten?

Bei Gericht nennt man solche Leute Querulanten, es gibt sogar eine passende Diagnose dazu, den „krankhaften Querulantenwahn“. Unter Experten ist umstritten, ob es dieses Krankheitsbild wirklich gibt, oder ob es nicht eher geschaffen wurde, um sich anstrengende Zeitgenossen vom Hals zu schaffen. Einig ist sich die Wissenschaft, dass solchen Menschen am Anfang ihrer Karriere häufig tatsächlich Unrecht geschehen ist, mit dem sie sich nicht abfinden können. Das Urbild des Querulanten ist Heinrich von Kleists wütender Michael Kohlhaas, über den Gerichtspräsident Voßkuhle jüngst sagte, für einen wie Kohlhaas gebe es „keine Differenz zwischen individueller Gerechtigkeitsvorstellung und allgemeinem Gesetz.“

Aber hilft gegen solche Zeitgenossen eine Gebühr?

In dem roten Band „Querulanz in Gericht und Verwaltung“, der auch in der Bibliothek des Verfassungsgerichts steht, einem der wenigen Bücher, in dem sich Psychologen mit dem Phänomen anhand empirischer Daten beschäftigen, steht zu lesen, ein wesentliches Bedürfnis vieler sogenannter Querulanten liege darin, die Aufmerksamkeit der Justizbeamten zu gewinnen. Es gebe nur ein Rezept: „Erfahrene Juristen berichteten, dass durch ausführliche Gespräche hartnäckige juristische Auseinandersetzungen beendet werden konnten“, schreiben die Autoren.

Auch Türhüter Hiegert sagt, er habe manchmal Leute am Telefon, denen er den Rat gebe, anstatt zu den Gerichten lieber zur Caritas oder zum Sozialamt zu gehen, weil man dort konkret etwas für sie tun könne. Er erinnert sich an eine alte Frau aus Berlin, die jeden Freitag um 15 Uhr angerufen hat. Er hat sich dann immer die halbe Stunde Zeit genommen. Man könne das natürlich nicht mit jedem machen, sagt Hiegert und deutet auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Manche Menschen seien in ihrem erlebten Unrecht eben auch gefangen.

Für Rainer Hoffmann ist das ein schwacher Trost. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer in Gelsenkirchen, die Frühlingssonne scheint durch die Balkontür. Gegenüber dem Schreibtisch hängt ein Erinnerungsfoto, als er 1997 zum Uefa-Cup-Finale mit Schalke in Mailand war. Auf dem Fernseher darunter Bilder von seinen beiden Nichten. Erinnerungen an Zeiten, in denen es in seinem Leben etwas anderes gab als Schriftsätze und Paragrafen. Der Kampf um sein Recht habe ihn einsam gemacht, sagt Hoffmann. Im Sommer droht die Zwangsversteigerung des Hauses. Im Moment sei an dieser Front aber erst mal Ruhe, „die rühren sich nicht, und ich rühre mich nicht“. Das könne aber auch daran liegen, dass er alle Behördenpost ungeöffnet ans Bundesverfassungsgericht weiterschicke.

Wäre es nicht einfach Zeit, Ruhe zu geben, schon aus finanziellen Gründen? Rainer Hoffmann schüttelt trotzig den Kopf: „Niemals. Damit rechnen die ja nur.“

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.