- Entern oder Kentern?
Bei der letzten Bundestagswahl war die Piratenpartei noch gefeierter Newcomer. Einige sahen in ihr schon eine „digitale Volkspartei“ wachsen. Auf den Senkrechtstart folgten Zoff und Flaute. Nun wird die Berliner Abgeordnetenhauswahl zum Lackmustest für die Zukunftsfähigkeit der Piraten.
Piraten stellt man sich als wilde Kerle vor, mit schwarzer Augenklappe. Dieser hier trägt dunkle Hornbrille und fuchtelt mit einem Mikrofon in die Runde. Die Berliner Piratenpartei hat zum Wahlkampfauftakt geladen. Gut hundert Leute sind gekommen. Man kennt sich hier, im schwarz-verhangenen Szeneclub „Jacki“. Dort weiß der Pirat mit Mikrofon gerade „nicht mehr richtig weiter.“ Denn der Parteivorsitzende, „der Herr Gerhard Anger“, ist momentan nicht auffindbar. Als er dann schließlich doch vors Publikum tritt, ist er erst einmal „ziemlich durch den Wind“, weil er gerade ein Interview mit RTL hatte. Aber nun wird der Vorsitzender mit dem Webnamen „tollwutbezirk“ zur zentralen Wahlkampffrage seiner Partei referieren: „Warum machen wir den Scheiß eigentlich?“
Anger sagt, dass das eine „sehr gute Frage ist“. Die Piratenpartei wirbt aus gutem Grund mit dem Plakat: „Wir sind die mit den Fragen“. Am Ende gibt der Berliner Chefpiraten dann doch eine Antwort: „Weil es kein anderer macht und weil es sich uneigentlich nicht machen lässt. Ja und das war‘s eigentlich. Viel Spaß!“
Willkommen beim politischen Senkrechtstarter 2009, dem Überraschungsgast bei der letzten Bundestagswahl. 847.000 Zweitstimmen erzielte die erst drei Jahre zuvor gegründete Piratenpartei dabei aus dem Stand. Das reichte immerhin für zwei Prozent Stimmenanteil. Das hatten nicht einmal die Grünen bei ihrem Wahlstart geschafft. Medien und Politologen stürzten sich auf den Newcomer mit den pfiffigen Parolen für ein zensurfreies Internet und gegen Überwachungsstaat. Die Mitgliederzahl wuchs rasant. Hatte man da gerade die Geburt einer juvenilen digitalen Volkspartei verpasst?
Mittlerweile ist der mediale Hype um die „Piraten“ abgeebbt. Die anfangs boomende Mitgliederzahl stagniert mittlerweile um die 12.000 bundesweit. Etliche Mitglieder kehrten der Crew nach internen Querelen frustriert den Rücken. Dann kamen den Piraten auch die Schlüsselthemen ihres Erfolgs abhanden: bei der umstrittenen Sperrung von Kinderporno-Seiten ruderte Ministerin „Zensursula“ von der Leyen zurück. Die Vorratsdatenspeicherung kassierte das Bundesverfassungsgericht. Und nicht zuletzt, vom jähen Entern der Piraten aufgeschreckt, haben mittlerweile auch die anderen Parteien deren zentrale Themen – digitale Revolution und Online-Kommunikation – für sich gekapert.
Dass die Piraten nach dem ersten Boom wieder im „medialen Nirwana“ verschwunden sind, hatte jedoch nicht nur Nachteile, beobachtet Alexander Hensel, der am Göttinger Institut über Entstehung und Entwicklung der „Piraten“ forscht. „Die Partei gewann Zeit und Ruhe, sich zu entwickeln und zu konsolidieren“.
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Mittlerweile haben die Piraten als Partei rund um Netzpolitik und digitale Revolution fast in jedem Bundesland einen Landesverband aufgebaut. Es gibt basisdemokratische Organisationsstrukturen, ein Grundsatzprogramm, Landeswahlprogramme und in einigen wenigen Kommunen sitzen die Orange-Schwarzen im Gemeindeparlament. „Die übertriebenen Erwartungen von 2009“ habe die Piratenpartei zwar elektoral nicht eingelöst, urteilt Politikwissenschaftler Hensel, „aber es ist erstaunlich, wie sich ihre Wahlergebnisse seither auf niedrigem Niveau stabilisieren.“
Das Niveau ist bescheiden und reicht nicht zum Gestalten. Die Landtagswahlen 2010 und 2011 brachten nur ein flaues Ergebnis, teils unter dem der Bundestagswahl. Die Berliner Wahl am 18. September ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Hensel „vorerst die letzte Bastion, wo ein Sprung ins Parlament möglich erscheint“. Auch bei einem flauen Ergebnis würden die Piraten nicht völlig von der Bildfläche verschwinden. Zumindest auf lokaler Ebene hätten sie als Sprachrohr einer Alltagsweltkultur weiterhin soziale Bindewirkung für eine internetaffine Community. Aber was die Reise in die große weite Politik angeht, dürfte sich in Berlin das Piraten-Schicksal entscheiden: entern oder kentern.
Wo, wenn nicht hier? In Berlin sind die Piraten verhältnismäßig stark organisiert, hier gibt es eine internetaffine Anhängerschaft. Die Demoskopen sehen die Partei jetzt zwischen drei und vier Prozent. Damit wäre sie wohl die größte unter den Kleinparteien. Sie könnte dabei nicht nur im Nichtwählerpool, sondern vor allem bei den Grünen nach Stimmen fischen.
„Mit vielen relevanten Fragen haben sich die Piraten noch gar nicht auseinandergesetzt. Aber sie gehen mit einer Unbedarftheit an die Politik heran, die für ihre Zielgruppen eine gewisse Frische ausstrahlt“, räumt Malte Spitz, Experte für neue Medien im Bundesvorstand der Grünen ein. Leichtes Piraten-Manöver: Im Berliner Wahlkampfallerlei mit seinen unterschiedslosen Politikergesichtern lässt sich mit hausgemachten, ironischen Plakaten schon wohltuend auffallen.
„Die Berliner Piraten sind weiter als die Gesamt-Partei“, weiß der Grüne Malte Spitze, „hier sind sie pragmatischer und versuchen sich im Wahlkampf professioneller mit einem etwas breiteren Themenspektrum zu präsentieren.“
Tatsächlich hat sich der 900 Mitglieder starke Berliner Piratenableger mithilfe innovativer, basisdemokratischer Internetkommunikation auf ein Wahlprogramm verständigt, das das Spektrum der einstigen Ein-Themen-Partei erweitert: Suchtpolitik, öffentlicher Nahverkehr, Mietentwicklung, Energiepolitik, Trennung von Staat und Kirche. Ein teils pragmatisch-regierungstauglicher, teils utopisch-idealistischer Mix steht da auf dem Papier. Einige Forderungen könnten sich auch bei anderen Parteien wiederfinden, mit Unikat-Postulaten wie „Wahlrecht für alle von Geburt an“ oder „öffentlicher Nahverkehr ohne Fahrschein“.
Diese Erweiterung des Themenspektrums, wie sie nicht nur die Berliner Piraten fordern, sorgt jedoch für Grundsatz-Zoff innerhalb der Bundespartei. Deren neugewählte Spitze plädiert eher dafür, sich auf das Kernthema Netzpolitik zu beschränken. Auftritte des neugewählten Bundesvorsitzenden sind deshalb im Berliner Wahlkampf weniger willkommen. Auch andernorts bekämpfen sich die Netz-Piraten nicht nur via Internet mit harten Bandagen. Erst im August schlug der Bundesvorstand Alarm. Mitglieder hätten eine kritische Parteifreundin körperlich und sexuell bedroht.
Auch im Berliner Landesverband wird heftig gekämpft und gestritten, zuletzt um die Nominierung der Kandidaten fürs Abgeordnetenhaus. Herausgekommen ist eine Wahlliste, wie sie testosteronhaltiger kaum sein könnte für eine jugendliche Partei: unter den 15 Kandidaten ist eine einzige Frau. Auch moderne Piraten sind eben Kerle.
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