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(picture alliance) Drohungen, Moralappelle und falsche Vorwürfe ziehen sich durch Wulffs politische Karriere

Wulff in Niedersachsen - Die Wahrheit ausgeblendet

Solange Christian Wulff Landespolitiker in Niedersachsen war, warf er der politischen Konkurrenz mit Verve ihre moralischen Verfehlungen vor. Ein Beispiel aus dem Jahr 1995 zeigt: Selbst mit der Wahrheit nahm es der Christdemokrat nicht so genau, wenn es darum ging, eine politische Gegnerin auszuschalten.

Es sollte ein denkwürdiger Auftritt von Christian Wulff werden. Am 22. März 1995 tritt der CDU-Politiker, damals Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag, ans Rednerpult, um eine Ministerin abzufertigen. Er hält eine ergreifende Rede über Macht und Moral. Ein Politiker, sagt er, dürfe weder Angehörige noch Freunde begünstigen. Der Ministerin ruft er zu: „Sie haben Ihr Amt in eklatanter Weise missbraucht.“ Wulff spricht sich in Rage, hebt die Stimme. „Wenn Sie einen letzten Rest politischen Anstandes gehabt hätten, dann hätten Sie wenigstens Einsicht gezeigt, dann hätten Sie sich entschuldigt und Ihr Amt zur Verfügung gestellt.“ [gallery:Christian Wulff - Bürgerfreund oder Konzernkumpane?]

Wenn es um die Moral in der Politik ging, dann kannte der Politiker Christian Wulff keine Kompromisse. Auf seinem langen Weg bis ganz nach oben hat der heutige Bundespräsident der politischen Konkurrenz immer wieder ihre moralische Verfehlungen vorgehalten, zum Beispiel dem  SPD-Politiker Gerhard Glogowski. Im Jahr 1998 erzwang Wulff den Rücktritt des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten, weil dieser auf seiner Hochzeit kostenlos das Bier einer lokalen Brauerei ausgeschenkt hatte. Zudem hatte Glogowski eine private Reise nach Ägypten zunächst als Dienstreise deklariert und die Rechnung erst verspätet beglichen.

Mit drastischen Worten hatte der CDU-Politiker im Jahr 2000 auch den damaligen Bundespräsident Johannes Rau wegen dessen Flugaffäre kritisiert und ihn zum Rücktritt aufgefordert. „Ich leide physisch darunter, dass wir keinen unbefangenen Bundespräsidenten haben“, hatte Wulff gesagt. Auch wenn nur der Anschein einer Abhängigkeit entstehe, Politiker dadurch ihre Unabhängigkeit verklärten, müssten sie zurücktreten. Heute indes denkt der Präsident, der wegen seiner Kreditaffäre und seines Umgangs mit den Medien selbst in der Kritik steht, ganz und gar nicht an Rücktritt.

In der langen Reihe der Wulff‘schen Moralpredigten sticht jene vom 22. März 1995 im niedersächsischen Landtag besonders hervor. Denn der Redner weiß in diesem Moment bereits genau, dass sein Vorwurf nicht haltbar ist. Am Vorabend seiner Rede war er mit den Fakten konfrontiert worden. Doch die können den CDU-Fraktionschef nicht mehr stoppen. Wulff hat sich auf eine Person eingeschossen: Monika Griefahn. Die 40-Jährige mit den braunen Locken ist Umweltministerin aus Leidenschaft. Sie hatte es 1990 als erste Frau in den Vorstand von Greenpeace International geschafft. Noch im gleichen Jahr hatte der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder die begabte SPD-Politikerin in sein Kabinett geholt. Doch im Frühjahr 1995 hängt Griefahns Karriere am seidenen Faden.

Was genau war passiert?

Die Geschichte beginnt zwei Wochen zuvor, am Montag, den 6. März, abends um viertel vor elf. Christian Wulff ist gerade im Kloster Loccum westlich von Hannover. Die CDU-Landtagsfraktion trifft sich dort zu einer zweitägigen Klausurtagung. Wulff ist in seinem Zimmer, er trägt schon den Schlafanzug. Ein Klostermitarbeiter klopft an die Tür. Der erzählt etwas von einer Bild-Anfrage. Wulff seufzt, schickt ihn weg. Er will schlafen gehen.

15 Minuten später klopft es wieder, es ist seine Stellvertreterin in der Fraktion. Sie erklärt ihm, dass es dränge, die Bild habe eine große Story. Es gehe um Vorteilnahme und Vetternwirtschaft. Demnach habe Monika Griefahn ihren Mann Michael Braungart, Geschäftsführer des Hamburger Umweltinstituts „Environmental Protection Encouragement Agency“ (EPEA), bevorteilt. Der habe ein ökologisches Konzept für die Expo 2000 in Hannover ausgearbeitet, das die Ministerin ausdrücklich empfohlen habe. Bei dem Auftrag soll es um 620 Millionen D-Mark gehen. Ein geheimes Dokument soll die Vorwürfe belegen. Wulff reagiert konzentriert, er sichert zu, alles parlamentarisch aufzuarbeiten. Es soll „zumindest eine kleine Anfrage“ im Landtag geben.

Seite 2: Wulff droht, „eine Handgranate auf das Funkhaus“ zu werfen

Mit der Stellungnahme des Oppositionsführers bläst die Bild an den folgenden Tagen zur Attacke: Die Amtsträgerin Griefahn habe für ihren Ehemann geworben, ein „Millionen-Deal“. Das Blatt titelt „Der scheinheilige Umweltengel“. Schnell sprechen Opposition und Medien von einer „Familienfilz“-Affäre. Andere Medien schreiben von der Bild ab, ohne die Quellen zu prüfen, wie der Autor einer Griefahn-Biografie, Jürgen Streich, darlegt. Auch der Spiegel tritt nach: „Die Ministerin hat längst ihr Kapital verspielt.“

Ministerpräsident Schröder gerät unter Zugzwang. Eine Krankheit der Ministerin dient als Vorwand, um sie zu beurlauben. Griefahn selbst ist von der Affäre überrumpelt. Ihre Reaktionen sind fahrig – und bieten der Gegenseite eine breite Angriffsfläche.

Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen interessiert sich für die Griefahn-Story. Die ARD schickt einen investigativen Reporter nach Hannover. Ekkehard Sieker kontaktiert die Bild, doch die will das geheime Dokument nicht herausgeben. Erst bei der CDU-Fraktion erhält er es.

Als Sieker die Akten durchgeht, staunt er. Die beiden wichtigsten Seiten passen nicht zusammen. Das Titelblatt ist datiert vom 10. September 1991 und das belastende Papier vom 17. November 1992 – dazwischen liegt ein Jahr. Und noch etwas bringt den Journalisten ins Grübeln: Anders als von der Bild behauptet, hatte Braungart nicht nur ein Konzept für die Expo 2000 vorgelegt, sondern zwei. Die 620 Millionen D-Mark bezogen sich auf ein früheres, längst verworfenes Konzept. Im zweiten Vorschlag – auf den sich Griefahns Empfehlung eigentlich bezog – verlangte Braungarts Umweltinstitut EPEA nicht nur kein Geld, sondern verzichtete auch darauf, als Auftraggeber aufzutreten. Damit ist die Unschuld des Ehepaars bewiesen.

Sieker will wissen, was Oppositionsführer Wulff dazu sagt. „Ich wollte ihm die Möglichkeit geben, das aufgrund dieser Informationen noch einmal zu prüfen.“

Das Interview findet am 21. März mittags statt, einen Tag vor der Landtagssitzung. Der Journalist erklärt Wulff mit ausgeschalteter Kamera, dass hier ein Fehler unterlaufen sei. Der CDU -Fraktionschef hört zu, nickt. Dann startet die Aufnahme. Wulff entschuldigt sich nicht, sondern bleibt bei seinen Vorwürfen. Das Gespräch dauert etwa 15 Minuten. Als die Kamera ausgeht, wird Wulff laut, geradezu wütend. „Er hat versucht, mich davon zu überzeugen, dass das alles Unsinn sei“, erzählt Sieker. Man wolle hier einen Bericht konstruieren, schimpft Wulff, das sei „Tendenzberichterstattung“. Da könne man fast schon geneigt sein, „eine Handgranate auf das Funkhaus zu werfen“.

Sieker ist schockiert. Doch er lässt die Sache ruhen, weil sich Wulff kurz danach persönlich entschuldigt. Der Oppositionsführer spricht später von einem „etwas lustigen Satz“, der von „den geschätzten NDR-Mitarbeitern“ eigentlich „nicht misszuverstehen war“.

Wulff nimmt zwar den verbalen Ausraster zurück. Nicht aber seine Vorwürfe gegen Griefahn. Der NDR sendet den Beitrag am gleichen Abend, darin wird die Ministerin weitgehend entlastet. Wulff ficht das nicht an.

Seite 3: Der Landtag entscheidet über Griefahns Schicksal

Am nächsten Tag – jenem 22. März 1995 – hält er im Parlament seine leidenschaftliche Anklagerede. Griefahn habe gegen die „moralischen Grundfesten eines Politikers“ verstoßen. Er frage sich, warum der Ministerpräsident nicht handle, „obwohl die Fakten auf dem Tisch liegen“. Wulff fordert Griefahns Entlassung. Wahrscheinlich auch aus Kalkül: Die SPD regiert mit einer hauchdünnen Mehrheit von nur einer Stimme. Wenn der Oppositionsführer die Ministerin stürzen könnte, würde das womöglich auch die Landesregierung zu Fall bringen. Dann könnte vielleicht die CDU an die Macht kommen.

Das Parlament entscheidet sofort, 157 Abgeordnete geben ihre Stimme ab. Doch die Sozialdemokraten stehen hinter ihrer Ministerin: Griefahn erhält die Ein-Stimmen-Mehrheit – und darf erst einmal im Amt bleiben.

Doch Wulff lässt nicht locker. Der CDU-Politiker verbündet sich mit dem Erzfeind, den Grünen. Im Mai 1995 setzen die beiden Parteien gemeinsam einen Untersuchungsausschuss durch. Dieser soll klären, ob Griefahn unzulässigerweise die geschäftlichen Interessen ihres Ehemanns mit ihrem Ministeramt verquickt hat. Hat Griefahn die Öffentlichkeit getäuscht? Hat ihr Mann Braungart die Expo-Gesellschaft unter Druck gesetzt? Um welche Summen geht es? Der Untersuchungsausschuss leuchtet auch ihr Privatleben aus.

Gerhard Schröder hatte der Opposition von Anfang an nicht getraut. Er beauftragt einen unabhängigen Juristen mit der Untersuchung, den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Helmut Simon. Sowohl der Untersuchungsausschuss als auch Simon werden bestätigen, dass die Vorwürfe nicht haltbar und die Beweise möglicherweise manipuliert waren.

Ex-Richter Simon schreibt später in seinen Prüfbericht: „Gerade weil keine wirtschaftlichen Interessen im Spiel waren, konnten die Eheleute unbefangen und kritisch an den Überlegungen für die Weltausstellung teilnehmen und sich dabei so sorglos und geradezu verdächtig verhalten, wie ihnen das vorgeworfen wird.“ Simon bewertet nicht nur die juristischen Bedenken als haltlos, sondern auch die moralischen: „Berufsethische Vorwürfe ließen sich daraus nicht herleiten.“

Der Fernsehmann Ekkehard Sieker sagt, das alles sei ein „Irrtum“ und „Desinformation“. Irgendjemand habe „absichtlich oder fahrlässig“ Material in der Öffentlichkeit verbreitet, gibt er später im Untersuchungsausschuss zu Protokoll.

Sieker spricht dort von „Vorsatz“, von „Handeln wider besseres Wissen“, wirft Wulff sogar „Manipulation“ vor. Er habe sich damals noch sehr vorsichtig ausgedrückt, sagt Sieker heute und wird deutlicher. In der vermeintlichen Filz-Affäre „wurde die Unwahrheit vorsätzlich benutzt.“

Seite 4: Das Bundespräsidialamt reagiert schmallippig

In seinem Prüfungsbericht fragt sich der Ex-Richter Simon denn auch, „wer und in wessen Interesse die Vorwürfe gegen Frau Griefahn der Bild-Zeitung zugespielt hat“. Auch die von „Ekkehard Sieker recherchierten Manipulationen“ seien aufklärungsbedürftig.

Auf eine Anfrage ans Bundespräsidialamt erhielt CICERO ONLINE lediglich eine schmallippige Antwort: Der Bundespräsident beabsichtige nicht, sich zu der damaligen Auseinandersetzung einzulassen.

Auch die übrigen Beteiligten aus der damaligen CDU-Fraktion haben den Vorfall heute weitgehend verdrängt. Einer der beiden, die damals beim TV-Interview anwesend waren, ist heute verstorben. Der andere, der frühere Fraktionssprecher Michael Rauscher, kann sich nach eigenen Angaben nicht erinnern, dass „die Heftung irgendwelcher Unterlagen irgendwie Relevanz für die Aufarbeitung der Griefahn-Affäre hatte“. Was so nicht ganz stimmt. Im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses heißt es an einer Stelle, dass „diese Papiere offensichtlich manipuliert worden waren mit dem Ziel, einen Begünstigungsvorwurf gegen die Umweltministerin abzuleiten“.

Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Bernd Busemann, heute niedersächsischer Justizminister, lässt erklären, dass er sich an die „vermuteten Manipulationen“ „so nicht mehr erinnern“ könne. An der Herausgabe „falscher Dokumente“ sei Busemann zu keinem Zeitpunkt beteiligt gewesen. Der damalige Grünen-Vertreter im Ausschuss, Thomas Schröder, sagt heute, es habe Anhaltspunkte gegen Griefahn gegeben. Doch habe man weniger auf die Person als auf die Expo-Geschäfte gezielt.

Der Ex-Richter Helmut Simon schrieb noch: „Die politische Kultur leidet sicherlich in erster Linie Schaden durch berufsethisch vorwerfbares Verhalten von Amtsinhabern, aber auch dann, wenn durch ungerechtfertigte Vorwürfe unter Irreführung der Öffentlichkeit die Menschenwürde verletzt wird.“

Monika Griefahn kehrte am 5. April 1995 ins Ministeramt zurück. Später wurde sie in den Bundestag gewählt. Heute ist sie freiberuflich tätig. Die Affäre, sagt sie, beschädigte ihren Ruf trotzdem nachhaltig. Noch mehr als zehn Jahre später berichteten Medien über die angeblichen Machenschaften der Ex-Ministerin. Den Freispruch erwähnten sie dabei nicht. „Egal, was man macht, da bleibt immer das komische Gefühl, bei der war doch mal was“, sagt Griefahn. Am Ende hatte Christian Wulff einen späten politischen Sieg errungen.

Doch mittlerweile hat Wulff seine Vergangenheit eingeholt, nicht nur die Kreditaffäre, sondern auch seine hehren moralischen Prinzipien von einst. Er sei demütiger und lebensklüger geworden, erwiderte Wulff Anfang Januar in seinem Interview mit ARD und ZDF, als er auf seine scharfe Kritik an seinem Vorvorgänger Johannes Rau angesprochen wird. Ob das Leben ihn auch mehr zum Umgang mit der Wahrheit gelehrt hat?

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