Die Kaffeehaus-Koalition
Im Kaffeehaus findet der urbane Müßiggänger traditionell seine Bühne für Dramen und Debatten. Das „Café Einstein“ in Berlin ist mehr: eine halböffentliche Polis der Demokratie, wo hohe Politik verhandelt wird. Mit zuweilen überraschenden Allianzen.
Helmut Kohl isst am liebsten das Wiener Saftgulasch. Bill Clinton bestellte Mineralwasser und spielte Karten. Und Hollywood-Schauspieler Dennis Hopper beteuert, das Schnitzel im „Einstein“ sei besser als die meisten Filme, in denen er mitspielte. Was ist das für ein Etablissement, in dem es passieren kann, dass Gregor Gysi, Rita Süssmuth und Christoph Schlingensief Tisch an Tisch ihre Melange trinken?
Für das Stammpublikum ist es die kultivierteste Form betreuten Wohnens in der Hauptstadt. Für alle anderen ist es das „Café Einstein Unter den Linden“: Bühne und Boudoir des politischen Berlin, Schauplatz fürs inoffizielle parlamentarische Feintuning, Refugium für blitzlichtermattete Volksvertreter. Hier frühstückt Renate Künast, hier versieht Joschka Fischer seine Akten mit Notizen, während sein Widersacher Eckart von Klaeden wenige Meter entfernt zur Morgenzeitung greift. Abends werden sie sich alle wiedersehen – in den Talkshows der Republik. Jetzt, früh um halb zehn, diskutiert Sandra Maischberger noch mit Kollegen über das nächste Politiker-Casting und ZDF-Mann Peter Frey erholt sich von den Wechselfällen der aktuellen Berichterstattung. Und da hinten in der Ecke, ist das nicht Heiner Geißler?
Kein Wunder, dass manche politischen Journalisten das „Einstein“ in der Hoffnung aufsuchen, als teilnehmende Beobachter ein Gran Herrschaftswissen zu extrahieren. Zuweilen geben sie sich sogar der Illusion hin, sie hätten das Aroma eines Gerüchts gewittert. Obacht: Warum begrüßt Otto Schily Herrn Rüttgers so herzlich, ja geradezu überschwänglich? Geht da was? Doch der kleine Lauschangriff solch eifriger Polit-Groupies bleibt meist folgenlos. Denn selbst, wer über ein intaktes Gehör und eine gute Portion investigativer Energie verfügt, müsste schon die Kunst des Lippenlesens beherrschen, um mehr als vage Vermutungen mitzunehmen. Hier regiert nicht die lautstarke Kampfplauderei der Medienarenen, hier wird das vertrauliche sotto voce gepflegt. Statt demonstrativer Beeindruckungsprosa und leicht verderblicher Absichtserklärungen raunt man im absichtsvoll gedämpften Parlando. Am 19. September, einen Tag nach der Wahl, als das „Einstein“ wie eine entfesselte Bundestagskantine wirkte, wandte sich eine Journalistin verzweifelt an den Inhaber: „Herr Uhlig, Sie haben doch Schauspiel studiert und waren Schüler von Samy Molcho – können Sie nicht für mich die Körpersprache übersetzen?“
Gerald Uhlig lächelte – und schwieg. Schauspieler aber ist er tatsächlich. Bereits sein Vater schenkte der Welt Bemerkenswertes: Er war der Erfinder der nahtlosen Damenstrumpfhose. Sein Sohn jedoch sagte den Nylons Valet, studierte am Wiener Max-Reinhardt-Seminar, stand mit Curd Jürgens auf der Bühne, inszenierte Performances mit Hamburgs Edelhure Domenica und schrieb über 60 Theaterstücke, bevor er das „Einstein“ übernahm, als Fortführung seiner künstlerischen Arbeit mit anderen Mitteln. Eine „soziale Plastik“ nennt er – Beuys eingedenk – sein Kaffeehaus. Mit seinen Fotoausstellungen zieht Uhlig die Künstler an, die Literaten, die Filmemacher. Wim Wenders zeigte im Lichthof des „Einstein“ zum ersten Mal seine Fotos, Udo Lindenberg seine Zeichnungen.
Während Impresario Uhlig gleichsam als Innenminister des „Einstein“ fungiert, glänzt sein Geschäftsführer Dieter Wollstein in der Rolle des Außenministers, als sphinxhafter Zeremonienmeister, der die Kunst des gelungenen Placements mit der Präzision operativer Eingriffe beherrscht. Stets von untadeliger Erscheinung und unaufdringlicher Freundlichkeit, sorgt er dafür, dass politische Kombattanten in spannungsvoller Sichtweite, aber nicht allzu drangvoller Nähe zueinander sitzen. Ein dramaturgischer Equilibrismus, der ganz der Philosophie des klassischen Kaffeehauses entspricht, wo Kommunikation optional, nicht zwanghaft sein darf. Wollstein weiß, was er tut. Seine diplomatischen Kompetenzen erwarb er sich als Protokollchef von Erich Honecker. So gewann er intimen Einblick in die Usancen der Macht und begrüßt manchen Spitzenpolitiker diskret mit Handschlag, weil er ihn schon vor der Wiedervereinigung auf dem deutsch-deutschen Parkett kennen lernte. Dieter Wollstein ist es auch, der die geschmeidige Bewegungslogik der Kellner choreografiert, die wie auf Schienen durch das Arrangement der Tische gleiten und sich in respektvoller Zurückhaltung zu üben haben – entbrennt unversehens ein Disput, wird weder Wasser nachgegossen noch gefragt, ob es geschmeckt habe, denn auch Distanz gehört hier zum Dienstleistungsethos.
„Das Schöne bei uns ist, dass alle miteinander reden“, erklärt Wollstein, „ganz gleich, aus welchem politischen Lager sie kommen.“ In der Tat sind die temporären Paarungen des Kaffeehauses zuweilen verblüffend angesichts der konturenscharfen Fronten, die im grellen Licht der Parlamentsdebatten und TV-Scharmützel gehärtet werden. Hier im „Einstein“ lag immer schon die ganz große Koalition in der Luft. Die Farbenlehre der Parteien verliert für ein paar Viertelstunden ihre Gültigkeit, schwarz-grüne oder rot-gelbe Tête-à-Têtes sind keine Seltenheit.
„Im Kaffeehaus sitzen Leute, die allein sein wollen, dazu aber Gesellschaft brauchen“, bemerkte Alfred Polgar. Dennoch könnte man es durchaus für eine strukturelle Schizophrenie von Politikern halten, dass sie ihre Privatsphäre ausgerechnet in der Halböffentlichkeit des Kaffeehauses inszenieren. Aber ganz gleich, ob man über soziale Obdachlosigkeit oder internalisierte Zeigefreudigkeit öffentlicher Personen sinnieren mag – das „Einstein“ verwahrt sich gegen das Klischee, es sei ein koffeinbetriebener Erlebnispark mit politischem Streichelzoo. Für die nötige Intimität sorgen Uhlig und Wollstein mit Bedacht: Fotografieren ist Besuchern strikt verboten, und wenn Gerhard Schröder oder Angela Merkel das Lokal betreten, so wird der obligatorische Tross aus Fernsehteams schon im Vestibül herauskomplimentiert.
Entzauberungen finden beiläufig statt. Manch bekanntes Gesicht der politischen Bühne wirkt hier seltsam entkernt, so, als hätten die Kameras bereits alles Leben daraus gesogen, und manch smarte Moderatorin sieht morgens noch aus wie ein ungelüfteter Flokatiteppich. Aber es ist gerade die naturbelassene Unaufgeregtheit des Lokals, die es wohltuend unterscheidet von den üblichen Catwalks der partyaffinen Berliner Teilzeitpromis. Wohlfeiles Fotofutter und exhibitionistische Schaumschläger verirren sich selten hierher. L’écume des jours liegt nur auf der Melange, die der Ägypter Hamdi mit der berühmten „Einstein-Blüte“ verziert, bis zu tausend Mal am Tag. Dafür kann es durchaus geschehen, dass plötzlich Jodie Foster mit Sonnenbrille und Basecap am Tresen steht und einen „Coffee to go“ ordert. Oder dass Arthur Miller einen halben Tag lang unerkannt über einem „Verlängerten“ brütete.
Dabei begann alles mit einer Durststrecke: 1996, als das „Einstein Unter den Linden“ als Dépendance des Westberliner „Café Einstein“ eröffnet wurde, war das Quartier noch eine unwirtliche Geisterstadt und Gerald Uhlig lauschte einzig „dem einsamen Gespräch der Thonet-Stühle“. Erst mit dem Umzug der Regierung nach Berlin erwachte das „Einstein“ aus seiner unbehausten Lethargie. Von Gästen überrollt wurde es dann nach dem 11. September 2001, als Tausende von Besuchern sich täglich in das Kondolenzbuch der Amerikanischen Botschaft nebenan eintrugen. Seither ist die Straße zur Botschaft gesperrt – und dient jetzt als bequemer Parkplatz für gepanzerte Politikerlimousinen.
Wolfgang Neuss dichtete einst: „Heut mach’ ich mir kein Abendbrot, heut mach’ ich mir Gedanken“. Das Kaffeehaus ist der ideale Ort, beides zu verbinden. Hierher geht man nicht einfach, um zu essen und zu trinken, hierher geht man, um innezuhalten, um zu fabulieren und zu spekulieren oder in kontemplative Zeitlosigkeit zu versinken. Es ist eine Villa Vanitas, in der einzig die Furien des Verschwindens keinen Zutritt haben. Denn selbst, wenn der Glanz des Amtes erlischt und die Götter auf Zeit wieder herabsteigen aus dem Olymp der Regierungsgeschäfte, ist ihnen ein Platz auf den Bänken aus feinstem honigfarbenem Schuhleder sicher. Das „Einstein“, so Gerald Uhlig, sei eine gute Entzugstherapie von der Macht. Wer sich hier beizeiten einen Rückzugsort schafft, dem wird zugleich jene Bodenhaftung beschert, die manchmal verloren geht im Hochnebel der eigenen Bedeutungsillusion. Wie sagte es doch Woody Allen: „Ich hasse die Realität, aber wo sonst bekommt man ein gutes Wiener Schnitzel?“
Christine Eichel leitet das Cicero-Ressort Salon. 2004 erschien ihr Roman „Im Netz“ (Hoffmann & Campe)
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