- „Die Grünen blasen zum Angriff auf die CDU“
Das Bürgertum des 21. Jahrhunderts ist kritisch, sozial und lebt umweltbewusst. Doch nicht allen steht das trendige Mäntelchen gleich gut, meint Parteienforscher Lothar Probst. Über die neue Mitte, Verschiebungen im Parteiensystem und den Wählerklau der Grünen
Grünen-Chef Cem Özdemir sagte, die Arme seiner Partei
seien weit offen für die enttäuschten Wähler der Liberalen. Und
SPD-Chef Sigmar Gabriel bezeichnete die Grünen gar
als „neue FDP“. Sind sie das?
Ein klares Nein. Nach meinem Eindruck streben die Grünen weder
danach, zur neuen FDP zu werden, noch rutschen sie objektiv in die
Rolle, die die FDP im Parteiensystem wahrnimmt.
Dennoch lud Cem Özdemir vergangenes Jahr alle
enttäuschten FDP-Wähler ein, das nächste Mal Grün zu
wählen.
Im vergangenen Jahr ist es den Grünen erstmals bei einigen
Landtagswahlen gelungen, auch FDP-Wähler zu erreichen. Da hat
Özdemir mit seiner Einladung nachgelegt. Und es gehört natürlich
zum politischen Geschäft, Angebote an die Wählerschaften aller
anderen Parteien zu machen. Aber die FDP-Wähler sind nicht die
Hauptzielgruppe der Grünen.
Ihre Wähler beziehen sie aber durchaus aus der
gleichen Wählerschicht?
Es gibt zwischen Wählern der FDP und der Grünen nur eine
Überstimmung: sie gehören jeweils zu den besser verdienenden und
bildungsstarken Schichten der Bundesrepublik. Damit enden dann aber
auch schon die Gemeinsamkeiten. Soweit es um die politischen
Wertorientierungen der Wählerschaften beider Parteien geht, stehen
sie sich eher diametral gegenüber. Die Wählerschicht der FDP
vertritt wirtschaftsliberale Positionen und ist eher hedonistisch
orientiert. Ökologische Politik wird häufig als Wachstumsbremse
angesehen, und auch für die Frage, wie man die Unterschiede
zwischen Arm und Reich ausgleicht, ist eher wenig Platz im
Wertehorizont von FDP-Wählern.
Außerdem positionieren sich die beiden Parteien ganz
unterschiedlich im Parteiensystem. Die Grünen haben sich zwar
stärker in die Mitte bewegt, sind aber nach wie vor links von der
Mitte. Die FDP positioniert sich dagegen eher rechts von der Mitte
und ist in wirtschaftspolitischen Fragen weit von den Grünen
entfernt. Die Grünen fordern etwa eine neue Vermögenssteuer und
einen höheren Spitzensteuersatz. Das ist für die FDP Gift. Die
Programmatiken von FDP und Grünen weisen in vollkommen
unterschiedliche Richtungen.
Heiner Geißler bezeichnete die Grünen als die „neue FDP“
im Sinne einer Bürgerrechtspartei. Sind die Grünen also doch die
neuen Liberalen, weil sie heute den Platz einnehmen, den die FDP in
den 70ern und 80ern innehatte?
Die FDP hat ihre eigene Bürgerrechtstradition im Laufe der Zeit
verloren. Das begann in den 1980er Jahren, als die FDP eine
stärkere wirtschaftsliberale Position eingenommen hat. Vertreter
der Bürgerrechtstradition wurden zumeist auf weniger einflussreiche
Positionen verdrängt. In der Führungsspitze ist es heute nur noch
Frau Leuthesser-Schnarrenberg, die für diese Tradition steht.
Die Grünen waren von Anfang an eine Partei, in der Menschen- und
Bürgerrechte groß geschrieben wurden. Diese Tradition wurde durch
den Zusammenschluss mit den ostdeutschen Bürgerrechtlern in den
1990er Jahren noch verstärkt. Das hat dazu beigetragen, dass die
Grünen die FDP als Bürgerrechtspartei abgelöst haben.
Aber natürlich haben sie kein Monopol in Bürgerrechtsfragen. Es
gibt in allen Parteien Mitglieder, die für Bürgerrechte eintreten,
auch in der Union oder in der SPD, etwa der Abgeordnete Dieter
Wiefelspütz. Keine Partei kann Bürgerrechtsfragen einfach
ignorieren. Bernd Schlömer, Vorsitzender der Piraten, sagte auf dem
Parteitag am Wochenende: „Wir sind eine soziale und liberale
Bürgerrechtspartei.“ Jeder heftet sich heute gerne dieses Etikett
an seine Jacke.
Das heißt, Grüne, FDP, CDU, CSU und SPD ringen heute
alle um die gleiche Wählerschaft – um das „neue“
Bürgertum?
Mit Ausnahme der Linken umwerben alle Parteien die Wähler in der
Mitte, also auch bürgerliche Wähler. Soziologisch gesehen gab es
das Bürgertum nie als homogene Gruppe. Aber durch gesellschaftliche
Veränderungen hat sich das Bürgertum heute noch weiter
ausdifferenziert. Das neue, kritische Bürgertum vertritt einerseits
eine gewisse Rationalität in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, es
hat andererseits aber auch ein ökologisches Gewissen und sieht
durchaus mit Sorge, dass sich die Gesellschaft sozial immer weiter
auseinander entwickelt. Der Wertehorizont dieses kritischen
Bürgertums ist ziemlich kompatibel mit den programmtischen
Angeboten der Grünen.
Werden sich die Parteien, wenn sie um die gleichen
Wähler werben, nicht immer ähnlicher?
In gewisser Weise ja. Die ideologische Polarisierung war vor 20, 30
Jahren im Parteiensystem sicherlich größer. Heute sehe ich schon
eine stärkere programmatische Konvergenz. Das verdeutlichen auch
die vielfach geäußerten Klagen sowohl in den Medien als auch bei
Wählern, man könne gar nicht mehr klar unterscheiden, wer welche
Position vertritt.
In Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie der Rolle des Staates gibt es zwischen SPD, CDU und Grünen gewisse Annäherungen. Auch Fragen, an denen sich früher die Geister schieden, wie Homosexualität oder Abtreibung, sind heute keine Themen mehr, bei denen sich die Parteien scharf voneinander abgrenzen. Da muss man schon an den unappetitlichen Rand des Parteiensystems gehen. Hinzu kommt, dass sich etwa die CDU mit der Familienpolitik von Ursula von der Leyen sozialpolitisch in Richtung Mitte bewegt hat. Auch das Ökologiethema, das man ursprünglich mit den Grünen verbindet, haben alle Parteien längst in ihren Programmen verankert.
[gallery:20 Gründe, warum Ökobürger nerven!]
Wer hat die größte Chance, das neue kritische Bürgertum
zu erreichen?
Die Chancen stehen für die Grünen nicht schlecht. Sie sprechen
nicht mehr „nur“ die klassische linke Mitte an. Mit ihren früheren
Positionen konnten sie fünf bis zehn Prozent der Wähler erreichen.
Mit den jetzigen Positionen erreichen sie Wählerschaften weit
jenseits der zehn Prozent. Sie positionieren sich heute als eine
Partei, die nicht einfach nur soziale Wohltaten verspricht, ohne
sich dafür zu interessieren, woher das Geld dafür kommt. Sie
versuchen vielmehr den Nachweis anzutreten, dass sie auch mit Geld
umgehen können und plädieren für eine solide Finanz- und
Wirtschaftspolitik. In Bremen und Schleswig-Holstein gibt es
bereits zwei grüne Finanzministerinnen. Auch in der Euro- und
Finanzkrise haben sich die Grünen eher staatspolitisch verhalten
und mit der Regierung Merkel für diverse Hilfspakete gestimmt.
Entwickeln sich die Grünen etwa zu einem künftigen
Koalitionspartner der CDU?
Das würden die Grünen sicherlich weit von sich weisen. Aber sie
wollen durchaus – das hat der vergangene Parteitag gezeigt – viel
stärker in das Lager der Union vordringen. Sprich, sie wollen die
CDU-Wähler, wollen aber nicht die CDU als Partei kopieren und sich
auch nicht als Koalitionspartner der CDU anbiedern. Nachdem sie in
den vergangenen 30 Jahren immer wieder erfolgreich der SPD Wähler
abspenstig gemacht haben, blasen sie jetzt zum Angriff auf die CDU.
Um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Sie versuchen gar nicht so
sehr, der FDP Wähler abspenstig zu machen, sondern zielen eher auf
die konfessionellen Wähler der Union.
Was man auch an der Nominierung von Katrin
Göring-Eckardt sehen kann…
Die Grünen sind schon seit längerem in dieses konfessionelle Milieu
eingesickert, das bisher eher zu den Hochburgen der Union gehört
hat. Katrin Göring-Eckardt ist Präses der Synode der Evangelischen
Kirche Deutschlands. Winfried Kretschmann ist Mitglied des
Zentralkomitees der deutschen Katholiken. In Schleswig-Holstein ist
gerade der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen zum
Präses der Nordkirche gewählt worden. Werte wie die Bewahrung der
Schöpfung aus einer christlichen Tradition heraus sind mit der
grünen Programmatik ja durchaus vereinbar. Die Grünen haben seit
den 1980er Jahren in ihrer Entwicklung einen weiten Weg
zurückgelegt und sich dabei verändert. Sie werden heute von allen
Parteien als Mitbewerber ernst genommen, gerade weil sie
erfolgreich aus zwei Richtungen Wählerschichten mobilisieren – aus
der eher linken Mitte, bei der sie mit ihrem sozialpolitischen
Profil punkten, und aus dem Bürgertum, bei dem sie mit einer
gelungenen Kombination aus ökologischen, wirtschafts- und
finanzpolitischen sowie sozialpolitischen Positionen zu überzeugen
wissen.
Lothar Probst ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bremen. Dort leitet er die Arbeitsbereiche Wahl-, Parteien- und Partizipationsforschung. Außerdem ist er Vertrauensdozent der Heinrich-Böll-Stiftung. Foto: privat
Das Interview führte Jana Illhardt.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.