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Deutschland am Pranger - Sind wir nun Zschäpe?

In München wird nicht allein dem Überbleibsel eines Mördertrios der Prozess gemacht. Auf der Anlagebank sitzt auch Deutschland. Und damit letztlich wir alle. Also auch Sie – und ich. Sind wir kollektiv schuldig?

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Wolfgang Bok war Chefredakteur und Ressortleiter in Stuttgart und Heilbronn sowie Direktor bei der Berliner Agentur Scholz & Friends. Der promovierte Politologe lehrt an der Hochschule Heilbronn Strategische Kommunikation.

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Längst reicht das Interesse am „NSU-Prozess“ weit hinaus über die Frage, ob Beate Zschäpe die Beteiligung an zehn Morden, mehreren Brandanschlägen und Banküberfällen nachgewiesen werden kann. Und ob die vier Mitangeklagten der ihnen zur Last gelegten Taten als Helfershelfer überführt werden können.

Der Vorsitzende der „Türkischen Gemeinde in Deutschland“, Kenan Kolat, brachte gleich am ersten Verhandlungstag auf den Punkt, worum es nicht nur den 53 Opfer-Anwälten der insgesamt 77 Nebenkläger bei der Vernehmung von über 600 Zeugen geht: Es soll die „Verbindung zwischen den Angeklagten und den Sicherheitsbehörden“ juristisch festgestellt werden. Mit anderen Worten: Deutschland soll als „tiefer Staat“, wie man ihn in der Türkei kennt, vorgeführt werden. Als Hort also, wo neonazistische Umtriebe unter den Augen der Obrigkeit gedeihen können. Und der dann auch dafür haftet. Moralisch, aber wohl auch finanziell weit über die eine Million Euro hinaus, welche die Bundesregierung angeblich bisher an die Opferfamilien bezahlt hat.

Nicht nur türkische Medien und Regierungsmitglieder bis hin zu Vize-Premier Bekir Bozdag bezichtigen Deutschland des mehr oder weniger offenen Rassismus’, bei dem ihre Landsleute Tag für Tag um Leib und Leben fürchten müssen. Auch in Deutschland selbst wird dieses Bild gezeichnet. Mutmaßungen über „blinde Polizisten, unfähige Verfassungsschützer und tölpelhafte Richter“ werden zu einem trüben, braunen Sumpf zusammen gerührt und letztlich als Beleg angeführt, dass Bertolt Brecht im „Arturo Ui” eben doch die Wirklichkeit gereimt hat: Der Schoß ist fruchtbar noch!

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Doch wo die Fakten so klar auf der Hand zu liegen scheinen, stellt kritischer Journalismus auch unbequeme Fragen. Dies geschieht leider zu selten:

Erstens: Warum übernehmen wir so bereitwillig die großspurige Bezeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“? Einmal abgesehen davon, dass mit dem Kürzel NSU eine Stadt (Neckarsulm) und eine traditionsreiche Automobilmarke verunglimpft werden. Nach allem, was man bislang weiß, handelt es sich bei dem Killertrio um „drei durchgeknallte Ossis“, die allenfalls ein paar Hand voll Helfer hatten. Die Springerstiefel-Szene lacht sich doch ins Fäustchen ob der kostenlosen Propaganda, die sie zur Großgefahr aufbläst. Die 38-jährige Zschäpe kann sich im Gerichtssaal als neonazistische Pop-Ikone inszenieren, die adrett gestylt der puren Lust am Töten ein bürgerliches Gesicht gibt. Durch Vergleiche mit den Links-Terroristinnen der RAF, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin oder Brigitte Mohnhaupt wird diese politische Überhöhung zusätzlich unterstrichen. Die tatsächliche gesellschaftliche Nicht-Verankerung wird hingegen unterschlagen: Die dem Jenaer Mördertrio ideologisch nahestehende NPD ist finanziell wie personell ausgezehrt und verkümmert bei Wahlen regelmäßig als Splitter einer Splitterpartei. Wird hier also ein brauner Popanz aufgeblasen, damit sich der ewige „Kampf gegen Rechts“ immer neu rechtfertigen und finanzieren lässt?

Zweitens: Wenn wir schon der Namensnennung auf den Leim geht: Warum wird der Anspruch „sozialistisch“ nicht thematisiert? Rechts- und Linksextremisten sind sich ähnlicher als sie wahrhaben wollen: anti-liberal, anti-amerikanisch, anti-kapitalistisch und fanatisch verblendet. Was den einen der Judenhass, ist den anderen die Sympathie für arabische Judenhasser. Deshalb ist es geradezu zynisch, wenn sich selbst ernannte „Antifa“-Gruppen zu Hütern des Rechtsstaates aufspielen. Gewalt und Gewaltverherrlichung ist zu verurteilen, einerlei, wie sich diese ideologisch verbrämt. Gerade erst hat das Bundesinnenministerium die aktuellen Zahlen genannt: Auf das Konto politisch rechts motivierter Gewalt gingen 2012 insgesamt sechs „versuchte Tötungen“, Linksextremisten werden acht beabsichtigte Tötungsdelikte zur Last gelegt.

Drittens: Beate Zschäpe hat ihren mörderischen Irrweg in einer linken Jenaer Gruppe namens „Zecke“ begonnen. Sie ist ein Kind der DDR und deren Krippenerziehung, in die sie ihre Mutter, eine Zahnärztin, bereits ab der zwölften Woche gesteckt hat. Die möglichst frühe Hortbetreuung gilt uns heute als Vorbild. Auch ihre Kumpanen Mundlos und Böhnhardt entstammen diesem Jenaer Umfeld. Dass ihr wahnhaftes Handeln nicht früh genug gestoppt wurde, hat auch mit einer nachsichtigen Jugendarbeit und toleranten Justiz nach dem Mauerfall zu tun. Doch ausgerechnet jene, die Polizei und Verfassungsschutz am liebsten Augenbinde und Fußfesseln anlegen würden, bezichtigen diese nun der Blindheit. Die Linkspartei, die eifrig an der Legende vom großen braunen Netzwerk strickt, hätte mit Blick auf ihr SED-Erbe reichlich Grund zur Selbstkritik. Dort, wo die selbst ernannten „Antifaschisten“ die größten Wahlerfolge einfahren, nämlich in ehemaligen DDR-Landen, treten die Neonazis am frechesten auf. Warum nur?

Viertens: Vergessen ist auch schon, dass durch verunreinigte Wattestäbchen bei DNA-Analysen die Fährte zu einer „südländisch aussehenden Frau“ gelegt wurde. Deshalb tappten die Ermittler lange im Dunkeln, die auch den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter einem „Phantom von Heilbronn“ zuordneten. Bei allen Taten gab es weder Bekennerschreiben noch klare Spuren, die auf einen rechtsterroristischen Hintergrund schließen ließen. Zum Terrorismus gehört der politisch kalkulierte Einsatz von Gewalt, um durch geschürte Angst ein möglichst hohes Maß an kühl berechnender Eigenpropaganda zu erzielen. Das Killertrio mordete jedoch kaltblütig im Verborgenen und vermied jedes Indiz auf eine politische oder rassistische Tat. Erst, nachdem die Bande am 4. November 2011 aufflog, weil sich das Duo Böhnhardt/Mundlos gegenseitig erschossen und Zschäpe ihr Zwickauer Versteck in die Luft gesprengt und sich später gestellt hat, wurde ein Bekennervideo bekannt. Aus dem Wissen von heute der Polizei Blindheit anzulasten, ist reichlich selbstgerecht. Aber manchen Anklägern scheint kein Indiz zu weit hergeholt, um deutsche Sicherheitsbehörden der rechten Sympathisantenschaft zu bezichtigen. Übrigens: Manche Medien, die diese Linie ziehen, haben vor dem 4. November 2011 über die vermeintlichen "Dörner-Morde" ebenfalls Tätertheorien verbreitet, die man jetzt „abstrus“ nennt. Manchem Blatt und Sender würde ein Gang ins eigene Archiv gut anstehen.

Fünftens darf auch danach gefragt werden, wie aufrichtig die türkische Trauer und Empörung ist. Das in dieser Frage gewiss unverdächtige Magazin „Der Spiegel“ beschreibt in seiner vorigen Ausgabe, wie die Regierung Erdogan diese abscheuliche Mordserie an ihren Landsleuten in Deutschland eben auch dazu nutzt, um einen Keil zur deutschen Mehrheitsgesellschaft zu treiben. Und wie sie „mit einer aggressiven Diaspora-Politik“ die deutschen Bemühungen „um Integration torpediert“. Wo bleibt das Bekenntnis zu den Auslandstürken, für die Ankara eigens eine 300-köpfige Behörde geschaffen hat, wenn diese selbst zu Tätern werden? Wo ist die bekundete Fürsorge, wenn die Zugewanderten der deutschen Fürsorge zur Last fallen?

 

Sechstens: Wenn uns alle Welt (medial) als Hort brauner Umtriebe wahrnimmt, muss man sich dann wundern, dass die deutsche Kanzlerin – stellvertretend für uns alle – von Athen bis Lissabon mit Hitler-Bärtchen und SS-Runen beleidigt wird? Und dass wir als größter Bürge für die Euro-Rettungsschirme auch noch als „neue Kolonialmacht“ und „Viertes Reich“ verunglimpft werden? Das Versagen in dieser Mordserie ist in der Tat schändlich. Aufklärung dringend erwünscht. Aber selbst in totalen Überwachungsstaaten können Killerbanden töten. Auch Deutsche werden übrigens Opfer falscher Verdächtigungen und nie aufgeklärter Straftaten.

Siebtens: Ein deutsches Gericht ist kein zweiter Untersuchungsausschuss, der nach politisch Verantwortlichen sucht. Es verkündet auch keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil, das nach sorgfältiger Abwägung aller Indizien und Beweise gesprochen wird. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung. Wer dem Gericht mangelnde Sensibilität bei der Vergabe von Presse- und Zuhörerplätzen vorwirft, muss sich fragen lassen, ob diesem eine eigenmächtige Auswahl nicht als Zensur ausgelegt würde. Und was die rechtsstaatlichen Belehrungen aus der Türkei anbelangt: Soll damit die Kritik der EU und Deutschlands an der zunehmend islamisch ausgerichteten Justiz, wie jetzt im Fall des verurteilten Pianisten Say, gekontert werden?  

Achtens: Muss sich also ein liberales, auf Gewaltenteilung und ausgedehnten Datenschutz erpichtes Deutschland kollektiv das Büßerhemd überzustreifen? Sind wir, nachdem wir nicht mehr Papst sind, nun auf einmal alle Zschäpe? Bei aller Sehnsucht nach Selbstkasteiung, nach der man sich auch in hiesigen Medien sehnt: Etwas mehr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat wäre schon angebracht. Denn wer keine Achtung vor sich selbst hat, darf diese auch nicht von anderen erwarten. So schwer es fällt: Das Verfahren in München erfordert Geduld und Augenmaß. Hier urteilen Richter, nicht Rächer. Es ist ein Strafprozess – und kein Schauprozess.

Wolfgang Bok war Ressortleiter und Chefredakteur bei diversen Tageszeitungen und später Direktor der Kommunikationsagentur „Scholz & Friends“. Heute schreibt er als Autor und regelmäßiger Kolumnist über gesellschaftspolitische Themen

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