- Der Surrealismus lebt
Die Macht der BILD wird vor allem von Politikern überschätzt. Sie ist keine politische Kraft, sie entscheidet keine Wahlen. BILD ist Boulevard und dessen Spezialität ist der moralische Skandal
Am 23. Juni plant die Axel Springer AG jeden deutschen Haushalt, sofern er über einen Briefkasten verfügt, mit einer kostenlosen Ausgabe von BILD zu beschenken. Das Massenblatt feiert damit seinen 60. Geburtstag. Dem logistischen Vertriebswunder stellt sich eine Internet-Kampagne entgegen, gestartet von Gruppe Berliner Studenten: Mit einem Internet-Brief an den Verlag und einem Aufkleber auf dem Briefkasten, der explizit den Einwurf der Zeitung untersagt, könne man sich der medialen Beglückung entziehen.
Den älteren Semestern der 68er-Generation, die einst demonstrative Stellung vor Auslieferungshöfen von BILD bezogen, mag das Herz aufgehen – wenn sie nicht schon längst verstanden haben, dass seinerzeit die politische Dämonisierung der Zeitung mit der Überschätzung ihrer gesellschaftlichen Macht einherging.
[video:Naumanns Bibliothek – Massenmörder Stalin]
BILD ist keine politische Kraft, sondern allenfalls ein tägliches kulturelles Signal, das Auskunft gibt über den Gemütszustand und Intelligenzquotienten ihrer Redaktion, ihres moralischen Anstands und die Zahnlosigkeit des Presserats. Außerdem ist sie das Produkt einer publizistischen Wertschöpfungskette, in der die Grenzen zwischen Marketing und neutraler Berichterstattung längst verschwommen sind. Und schließlich ist BILD auch, wer wollte das bestreiten, unterhaltsam: Die Briefe des hausinternen Staralkoholikers Wagner an das Wetter, an den Baum oder an einen Massenmörder sind regelmäßige Beweise dafür, dass der Surrealismus lebt. Dass BILD auch von einer erstaunlichen Rachsucht an ausgewählten, wenn auch eingebildeten Feinden des Chefredakteurs getrieben wird, ist bekannt.
Als der Autor dieser Zeilen in der ZEIT einmal Axel Springers „Bild“ als das „Geschlechtsteil unter den deutschen Boulevardzeitungen“ bezeichnete, schickte der Chefredakteur Reporter aus, um bei den Nachbarn in Hamburg und Berlin Klatsch und Tratsch über das Privatleben des Frechlings einzusammeln. Doch der lebte monogam, las die FAZ und SZ und die Herald Tribune. Die BILDzeitung natürlich auch, notgedrungen. Was Kai Diekmann erregt, dachte er, erregt auch die angeblich 12 Millionen Leser im Lande. Aber das ist ein Irrtum. „Wir“ Deutschen sind bekanntlich nicht „Papst“ geworden, und rund sechs Millionen der protestantischen BILD-Leser erst recht nicht. Nur Deutschlands Politiker glauben, dass das Massenblatt Wahlen entscheiden könne. Das ist nachweisbar nicht der Fall.
Trotzdem war die Überschrift zur Wahl des greisen Ratzingers genial wie diejenige des New Yorker Tabloids „Daily News“ im Jahre 1975: „Ford to City: Drop dead!“ Die Stadt war pleite, aus Washington war kein Geld zu erwarten. Allerdings hatte der damalige US-Präsident Gerald Ford das keineswegs so gesagt, ebenso wenig wie Marie Antoinette den nach Brot hungernden Parisern empfohlen hatte, es stattdessen mit Kuchen zu versuchen. Ford verlor dennoch die nächste Wahl und die nette Königin wurde geköpft.
Warum Fakten im Boulevard nebensächlich sind
Wollte sich BILD in diese Galerie der politisch-publizistischen Scharfrichter einreihen, könnte sie seit jüngstem auf die Trophäe „Christian Wulff (CDU)“ verweisen. Warum das traditionell Unions-nahe Blatt, das noch bis zum letzten nachgewiesenen Plagiat dem Verteidigungsminister Guttenberg (CSU) zur Seite stand, ausgerechnet den harmlosen Bundespräsidenten bis in den kleinsten Winkel seiner ebenso peinlichen wie lächerlichen Vorteilsannahmen verfolgte, ist inzwischen Gegenstand der schönsten und dümmsten Berliner Verschwörungstheorien, die alle auf Angela Merkel zulaufen.
Dass der Skandal möglicherweise aufgedeckt wurde, weil das Blatt einer der Hauptaufgaben der eigenen Profession, nämlich die Kontrolle politischer Macht, ernst genommen hatte, wollen die Hamburger Kollegen, die den Scoop verpasst hatten, nicht glauben. Denn dass Glaubwürdigkeit und Genauigkeit eine der wesentlichen Stärken des Boulevard-Blatts sei, scheint den regelmäßigen Lesern von BILDblog.de wenn nicht unvorstellbar, so doch relativ unwahrscheinlich.
Boulevard-Journalisten wollen Geschichten erzählen. Für sie gilt der amerikanische Lehrsatz: „Forget the facts, push the story.“ In einer guten Boulevard-Story wirken Zahlen wie Stacheldrahtverhaue. Wann immer die Formel „immer mehr“ auftaucht – wie „immer mehr Krebskranke“ oder „immer mehr Arbeitslose“ – wissen wir: Hier geht die Story vor. Die Fakten könnten stören.
Und die Leser wollen Geschichten lesen. Wie einst die Mythen, Sagen und Märchen stiften Boulevard-Geschichten die Illusion von gesellschaftlichem Zusammenhang. Sie sind die Folklore-Produzenten der Neuzeit. Gute Geschichten brauchen seit Menschengedenken Helden und tragische Ausgänge. Happy End-Artikel sind bisweilen auch erwünscht – vor allem, wenn es sich um entlaufene Haustiere handelt, die über halbe Kontinente zum Herrchen zurückfinden. Tier- und Kinderschicksale (womöglich in dieser Reihenfolge) bewegen das Gemüt jedes Menschen.
„Der Boulevard“ ruft dem Leser tagein, tagaus zu: „Seht hin, das sind wir.“ Aber manchmal eben auch: „Seht hin, die da sind nicht wie wir.“ Ausgrenzung und Verachtung von Minderheiten sind die sittlichen Gefährdungen des „Boulevards“ – die Sarrazin-Debatte und die täglichen Bloßstellungen von angeblich betrügerischen Hartz IV-Empfängern in BILD beruhen auf einer offenkundig zynischen Einschätzung der Leser-Intelligenz – oder, schlimmer noch, auf dem professionellen Zynismus der Redaktion selbst. Die Kampagne gegen den Rettungsschirm für Griechenland grenzte an ausgewachsene Xenophobie und hat dem Ruf der Bundesrepublik geschadet.
Doch die Attraktivität des Boulevard-Journalismus hat andere Wurzeln. Ihm kommt es darauf an, Kontinuität zu erzeugen. Dies funktioniert am besten, indem sich Redaktionen ihre eigenen Helden bauen. Für BILD waren das jahrelang ehemalige Pop-Sänger wie Dieter Bohlen, der Fußballspieler Lothar Matthäus oder die Schauspielerin Uschi Glas und ihr ungeratener Sohn: Sie sind das folkloristische Personal, dessen Lebensläufe als repräsentatives Auf und Ab des Lebens dargestellt werden. So werden sie gewissermaßen zu Familienmitgliedern der Lesergemeinde, ob sie es will oder nicht – irgendwann gewöhnt sie sich an diese Figuren, bis hin zu ihren Liebesgeschichten, oder, besser noch, in der BILD-Sprache, zu ihrem „Liebes-Aus.“
Die „Promi-Seiten“ – am liebsten schwangere Starlets im Bikini – führen den Lesern Gestalten aus der Welt Hollywoods und der Soap-Opera vor, die dem gelegentlichen BILD-Leser völlig unbekannt sind. Wer die Seiten aber regelmäßig liest, kennt sich aus und muss annehmen, dass eine besondere Gesellschaftsschicht – Filmschauspieler, Sängerinnen oder TV-Stars – es vorzieht, ein Leben am Strand zu verbringen. Diese Art Guckloch-Journalismus hat Tradition. Doch angesichts der totalen Auflösung des Gefühls für Privatheit im Netz wird die diese Boulevard-Methoden ihren Reiz verlieren.
„Personalisierung“, das Zauberwort des zeitgenössischen Journalismus in allen Spielarten, ist der publizistische Schlüssel zur Welterklärung. Die Vorstellung, dass „Strukturen“, „Mächte“ und „alternativlose Notwendigkeiten“ oder „Sachzwänge“ die entscheidenden Determinanten von Politik und Wirtschaft seien, erweist sich für den Historiker als unzureichend – und für den Leser auch. Er weiß immer noch, dass „Männer (und Frauen) Geschichte machen.“ Wenn Journalismus wirklich die Geschichtsschreibung der Gegenwart ist, dann dient er auch der Motivforschung der Herrschenden. Deren Motive reichen von Machtgewinn und Machterhalt aus idealistischen oder ideologischen Gründen bis hin zur persönlichen Bereicherung.
Die Spezialität des Boulevard ist der moralische Skandal
Der Boulevard-Journalismus trägt diesem Sachverhalt hin und wieder Rechnung. Seine Spezialität ist der moralische Skandal. Dass er dabei nicht selten selbst Grenzen des guten Geschmacks überschreitet und bisweilen auch gesetzliche Grenzen, ist derzeit am Fall der englischen Presse zu studieren. Dass die BILD-Zeitung eine Heerschar von Presseanwälten beschäftigt, ist wohl eine Legende, aber Richtigstellungen gehören zu ihrer problematischen Tradition. Oder, in den Worten des Verlegers Axel Springer: „Manchmal leide ich wie ein Hund“ – bei der Lektüre seines Massenblatts.
Anders als die seriöse Konkurrenz, die den politischen, ökonomischen und kulturellen Lauf der Welt in Nachrichten und Kommentaren darbietet und kommentiert, spezialisiert sich „der Boulevard“ auf die conditio humana, genauer, auf Geburt und Sterblichkeit des Menschen. Vor allem aber auf Sterblichkeit. Unfälle, Morde, Krebs und Massenkrankheiten sind die Standard-Themen. Sie setzen auf Mitleid, Empörung und Angst - oder auf die Hoffnung, ein Allheilmittel für alle Gebrechen stünde kurz vor seiner Marktreife. In einer aufgeklärten Welt, die nicht an Wunder glauben will, stiftet der Boulevard ein wenig Hoffnung. So lässt sich, ganz nebenbei, auch eine „Volksbibel“ vermarkten, und der Papst, den wir uns als persönlichen Beichtvater des Chefredakteurs vorstellen dürfen, gibt seinen Segen für das Geschäft.
Doch warum erreicht BILD viele Millionen Leser, während die Auflagen der seriösen Tages- und Wochenzeitungen seit eh und je in Deutschland unter der Millionen-Grenze liegen? Die Schüler der „Kritischen Theorie“ Horkheimers und Adornos werden den Boulevardjournalismus als große Verblendungsmaschine beurteilen: Verborgen werden die kapitalistischen Wertschöpfungszusammenhänge, die Einsicht, dass Wenige über Viele herrschen usw. Doch hinter dieser These verbirgt sich eine Art Verschwörungstheorie – als wären die Boulevardblätter gehorsame Diener der Wirtschaftsverbände oder Parteien. Dass sie selbst den legitimen Gewinn-Interessen der Verleger folgen, die sich an Auflagen und nicht an partei- oder verbandspolitischen Aufträgen orientiert, stört die Schlüssigkeit des kritischen Arguments. Ganz falsch ist es aber auch nicht.
Die banale Erklärung von Millionen-Auflagen ist nicht sonderlich theoriefreundlich. Es gibt eben ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis aller Menschen, unterhalten zu werden. Dem einen gelingt das durch den Genuss von Bachs „Goldberg-Variationen“, dem anderen reicht ein Fußballspiel oder ein Pop-Konzert. Eine pluralistische Medienlandschaft, in der beide Bedürfnisse bedient werden, ist allemal einem System vorzuziehen, in dem kritische Aufklärung allein den Markt beherrscht; denn früher oder später neigt diese zum Erziehungsjournalismus, und der befindet sich traditionell in Gefahr, seine eigenen politischen und ökonomischen Prämissen zu verdunkeln. Derlei Blätter haben einen Namen und der heißt „Prawda.“ Dann doch lieber – auch – BILD.
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