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"Der Rechtsstaat ist keine Garantie dafür, dass alles gerecht zugeht"

Sie ist die Herrin über die Stasi-Akten: Im Interview berichtet Marianne Birthler über ihre politischen Aktivitäten in der DDR und die Rolle der Kirche im Osten.

Frau Birthler, Sie waren Mitte der siebziger Jahre in der DDR im Außenhandel tätig und haben dann eine mehrjährige Ausbildung zur Gemeindehelferin und Katechetin in der evangelischen Kirche gemacht. Was hat Sie zu diesem Berufswechsel veranlasst? Der Berufswechsel war nicht als solcher geplant. Ich war aktiv in der evangelischen Kirche und habe dort Gesprächskreise und thematische Veranstaltungen organisiert. Da mir das großen Spaß gemacht hat, habe ich an einer berufsbegleitenden Weiterbildung für kirchliche Laien teilgenommen – und daraus wurde schließlich eine fünfjährige Ausbildung zur Katechetin und Gemeindehelferin – heute würde man das Gemeindepädagogin nennen. Nebenbei habe ich entdeckt, welche politische Dimension diese kirchliche Arbeit hat – das hat mich gereizt. Lange vor dem Fall der Mauer waren Sie schon politisch aktiv. Wie groß ist der Anteil der Kirchen an der friedlichen Revolution? In den späten 70er- und frühen 80er-Jahren gab es einen Annäherungsprozess zwischen den politischen Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen und der evangelischen Kirche. Wache Christenmenschen, die sich zu politischen Themen äußern wollten, und Menschen von außen, die die Chance genutzt haben, dass wenigstens die Kirche über eine nicht staatlich kontrollierte Teilöffentlichkeit verfügte, arbeiteten immer enger zusammen. Innerkirchlich war dies umstritten. Es gab besonders in den späten 80er-Jahren eine Reihe von Kirchengemeinden, die sich solcher politischen Arbeit verweigerten, weil sie meinten, dass politisches Engagement nichts mit der Verkündigung des Evangeliums zu tun habe. Wir sahen das anders. Damals entstand der Begriff „Politische Diakonie“. Eine Reihe von Kirchengemeinden, für Berlin kann ich das beurteilen, haben sich aber für die Friedens- und Umweltbewegung geöffnet und die Herausforderung angenommen. Aber das war eine Minderheit. Hätte es die friedliche Revolution so gegeben, wenn die evangelische Kirche nicht die Räume geöffnet hätte und diese Öffentlichkeit hergestellt hätte? Irgendwann wäre es wahrscheinlich auch dann zu einer Revolution gekommen, die aber sicher anders ausgesehen hätte. Die friedliche Revolution wurde durch sehr viele Menschen aus der evangelischen Kirche getragen. Sie machten in den Kirchengemeinden erste Erfahrungen mit demokratischen Umgangsformen, etwa angstfrei miteinander zu streiten oder den Dialog zu pflegen. Sie haben in den Kirchen gelernt, sich für eine bestimmte Entscheidung Mehrheiten zu organisieren. Dieses „demokratische Handwerk“ konnte in der DDR – wenn überhaupt – nur innerhalb der Kirchen eingeübt werden. Nicht von ungefähr kam 1990 ein nicht geringer Teil des politischen Personals aus kirchlichen Zusammenhängen. Was hat Sie bewogen, in die politische Arbeit zu gehen? Das war keine plötzliche Entscheidung, sondern eine Entwicklung. Sie begann zu einem frühen Zeitpunkt, als ich mein Engagement noch nicht als ein politisches bezeichnet hätte. Ich lebte in den siebziger Jahren mit meiner Familie in Schwedt an der Oder, dann auf dem Dorf. Ich war Hausfrau und Mutter und engagierte mich, wie gesagt, in der Kirchengemeinde. Wir haben z.B. über den Schutz der Umwelt diskutiert oder über Erziehungsmethoden – dafür hatte ich mir Literatur aus dem Westen besorgt. Interessant war, dass die Menschen, die zu diesen Kreisen gehörten, auf diese Weise eine Art der Kommunikation, der Streitkultur und der Meinungsbildung kennen lernten, die es sonst nirgendwo gab. Manche davon haben sich vielleicht am nächsten Tag an ihrem Arbeitsplatz gefragt, weshalb solche Gespräche nicht auch dort möglich sind. So hat unsere nicht explizit politische Arbeit dazu beigetragen, dass Menschen politisch und gesellschaftlich sensibilisiert wurden. Auch die gesellschaftlich-politische Relevanz des Evangeliums wurde mir in dieser Zeit immer deutlicher. In den Fürbittandachten der späten achtziger Jahre, die dann schon einen sehr politischen Charakter trugen, wurde mir das immer deutlicher. Viele Menschen litten unter den politischen Verhältnissen in der DDR, leisteten Widerstand oder stellten einen Ausreiseantrag. Mit all dem war Angst verbunden. In einer solchen Situation ist zu spüren, dass auch viele Texte der Bibel von Menschen verfasst wurden, die in Bedrängnis waren und zwischen Angst und Hoffnung schwankten. Das fand ich faszinierend. Wie haben Sie die Kirchenleitung in dieser Zeit erlebt? Die Kirchenleitung bestand aus sehr unterschiedlichen Menschen, die auch unterschiedliche Haltungen zum Staat hatten und demzufolge auch zu der Frage, welches das angemessene Verhältnis der Kirche zum Staat ist. Wir wussten jedenfalls zumeist ganz gut, an wen wir uns mit welcher Frage wenden können und bei wem das aussichtslos ist. Als wir 1986 den Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ gegründet haben, verstanden wir uns nicht nur bezogen auf die Politik, sondern auch im Blick auf die Kirche als Oppositionsgruppe. Wir kritisierten, wie wenig entschieden sich die Kirche gegenüber dem Staat verhält. Ein Grund für diese Zögerlichkeit war natürlich, die Arbeitsmöglichkeiten für die Gemeinden zu erhalten. Einige mochten vielleicht auch ihre kleinen Privilegien, Westreisen zum Beispiel, nicht gefährden. Ich will nicht ungerecht sein. Wenn man für die gesamte Kirche verantwortlich ist, kann man auch nicht so radikal auftreten, wie das einzelne Gruppen tun. Wir wären aber nie auf die Idee gekommen, dass einer von unseren Gesprächspartnern sich heimlich mit Vertretern der Stasi trifft. Haben Sie den Satz von Bärbel Bohley „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ mitgetragen? Nein, ich war mit diesem Satz nicht einverstanden, weil er zwei verschiedene Ebenen miteinander in Beziehung setzt. Gerechtigkeit ist eine moralische Kategorie. Der Rechtsstaat ist keine Garantie dafür, dass alles gerecht zugeht. Bärbel Bohley hat wohl zum Ausdruck bringen wollen, warum viele Menschen enttäuscht waren. Viele wussten nicht, dass das Leben in einer freien Gesellschaft auch anstrengend ist – erst recht, wenn man aus einem System kommt, in dem alles geregelt und festgelegt ist. Ich habe deshalb oft die Exodus-Geschichte erzählt: Vom Volk Israel, das nach Generationen der Sklaverei befreit wird, dann aber eben nicht das gelobte Land vorfindet, in dem, wie es hieß, Milch und Honig fließt. Stattdessen erwartete sie die Wüste. Und prompt setzte das Gemurre ein, und die gerade erst Befreiten sehnten sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens. Auf einmal erschien ihnen, die so lange von der Freiheit geträumt hatten, die Sicherheit attraktiver als die Freiheit. Das ist eine wunderbare Allegorie der Frage, wie Gesellschaften mit Unfreiheit, mit der Erinnerung an Gefangenschaft, und mit Freiheit umgehen. Was bringen die Bürgerrechtler in das vereinigte Deutschland ein? Ach, wir sind so verschieden! Vielleicht ist uns gemeinsam, dass wir weniger anfällig für Ideologien sind. Auch scheint mir, dass die ehemals Bürgerbewegten der DDR heute eher pragmatisch und konsensbezogen denken, als dass sie Konflikte zuspitzen. Wir waren ja trotz unserer Verschiedenheit bei einem so starken und gefährlichen Gegner wie dem DDR-Staat gezwungen, den Konsens untereinander zu suchen. Später, als wir in der Demokratie angekommen waren, sind wir verschiedene politische Wege gegangen. Das war für viele aus der Bürgerbewegung schmerzlich, obwohl es ja eigentlich eine politische Normalität war. Konflikte als solche anzuerkennen und auszutragen, musste von uns erst eingeübt werden. Wir waren ja in der DDR die leisen Töne gewohnt. Schon Andeutungen konnten die Aufmerksamkeit staatlicher Stellen auf sich ziehen, auch von den Westmedien wurden solche leisen Töne und kleinen Aktionen, die heute unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen würden, registriert. Nach 1990 wurde es schwieriger, öffentlich Aufmerksamkeit zu gewinnen. Thomas Krüger bedauert, dass viele der früheren Bürgerrechtler damit beschäftigt sind, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Das ist eine seltsame Wahrnehmung, die ich nicht bestätigen kann. Die Akteure der DDR-Bürgerbewegung sind heute in der Kommunalpolitik, in Landesparlamenten, NGO’s wie Amnesty International engagiert oder arbeiten in sozialen Projekten wie z.B. der Suppenküche einer Kirchengemeinde mit. Die meisten sind also mit sehr gegenwärtigen Themen beschäftigt. Klar, manche, wie ich zum Beispiel, sind beruflich mit der Vergangenheit beschäftigt, aber das ist nicht typisch. Nehmen Sie beispielsweise die Handvoll Abgeordnete, die 1990 für das Bündnis 90 in den Brandenburger Landtag gewählt wurden: Günter Nooke ist heute Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, Matthias Platzeck Ministerpräsident, zwei weitere sind Fraktionsvorsitzende im Stadtparlament von Frankfurt/Oder, der eine für die CDU, der andere für die SPD, ein anderer für die Bündnisgrünen in Potsdam. Das sind doch alles keine rückwärtsgewandten Menschen! Was würden Sie der Kirche aus Ihrer damaligen Erfahrung heute mit auf den Weg geben? In den achtziger Jahren in der DDR ist die evangelische Kirche von vielen Menschen, auch von solchen, die gar nicht der Kirche angehörten, als eine Institution angesehen worden, die auf ihrer Seite stand – und gegenüber, auf der anderen Seite, befanden sich der Staat, die SED, also mächtige Institutionen, die den Menschen Angst machten und fremd waren. Das hat sich nach 1990 gewandelt. Mit scheint, die Kirche wird heute von vielen als Teil der großen Institutionen angesehen, weiter weg von den Menschen. Das finde ich bedauerlich. Was könnten die Kirchen also tun, um wieder an der Seite der Menschen zu stehen und nicht ihnen gegenüber? Darüber sollten wir nachdenken. Das Gespräch führte Markus Bräuer

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