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Unrechtsstaat DDR - Als Propagandist ist Genosse Gysi unschlagbar

Die DDR war kein Unrechtsstaat, sagte Gregor Gysi – und hat sich mit damit viel Ärger eingehandelt. Ob die Aussage richtig oder falsch ist, ist dem Linken-Politiker dabei egal. Er führt einen subtilen historischen Deutungskampf

Autoreninfo

Hugo Müller-Vogg ist freier Journalist und Buchautor. Er publizierte mehrere Gesprächs-Bände, u. a. „Mein Weg" mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel sowie „Offen will ich sein und notfalls unbequem“ mit Bundespräsidenten Horst Köhler. Im April 2014 erschien sein Interview-Buch mit Rainer Brüderle „Jetzt rede ich!“. War von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der FAZ

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War die DDR ein Unrechtsstaat? „Ja, was denn sonst“, hat Werner Sonne kürzlich an dieser Stelle geantwortet und dies klug begründet. Da schreibt ein Land in Artikel 1 seiner Verfassung die Vorherrschaft der „Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ fest und sperrt seine Bürger kollektiv ein. Wenn man dieses Land nicht „Unrechtsstaat“ nennen darf, dann gibt es auf der Welt derzeit keinen einzigen Staat dieser Art.

Gleichwohl: Wer die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet, der läuft Gefahr, von vielen Ostdeutschen, aber auch von DDR-Nostalgikern im Westen heftig attackiert zu werden. Wer die DDR einen Unrechtsstaat nenne, der beraube Millionen Menschen ihrer Heimat und missachte die Lebensleistung der DDR-Bürger, lautet der empörte Vorwurf. Dass die in der Linkspartei vereinigten SED-Erben so reden, ist eigentlich nicht der Rede wert. Dass dieselben Genossen in Thüringen anerkennen wollen, die DDR sei „in der Konsequenz ein Unrechtsstaat gewesen“, widerspricht dem nicht. Um an die Macht zu kommen, hat mancher schon manches unterschrieben.

Propagandisten einer eher harmlosen DDR


Viel bedenklicher ist, dass das Gesülze von der „Entwertung der Lebensleistung von 16 Millionen“ offenbar auch bei Menschen auf fruchtbaren Boden fällt, die den real existierenden Sozialismus weder geschätzt noch ihn zurück haben wollen. Sie fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse, obwohl die meisten von ihnen beim „Aufbau des Sozialismus“ nicht mehr getan haben, als sie unbedingt mussten, wenn sie Nachteile am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche oder bei Reisen ins befreundete sozialistische Ausland vermeiden wollten. Kurz: Die meisten Ostdeutschen waren zwischen 1949 und1989 Mitläufer wie die meisten Deutschen zwischen 1933 und 1945 auch. (Für die DDR-Verklärer sei gleich hinzugefügt: Nein, DDR und Drittes Reich kann man nicht gleichsetzen; das Dritte Reich hat die ganze Welt in Krieg und Elend gestürzt, die DDR nur ihre eigenen Bürger um Freiheit und Wohlstand beraubt.)

Dass die Stimmung unter den Ostdeutschen so ist, wie sie ist, darauf dürfen Gregor Gysi und seine linke Truppe zu Recht stolz sein. Auch SPD-Politiker wie Erwin Sellering, der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, gehört zu den Propagandisten einer eher harmlosen DDR, einem Staat mit kleinen Fehlern. Nein, in der DDR war nicht alles in Ordnung, so einfach machen es sich Gysi und Genossen nicht. Dass aber wirtschaftliche Leistungskraft und Lebensstandard in den neuen Ländern niedriger sind als in den alten und die Arbeitslosigkeit höher, damit hat die SED/PDS nichts, aber rein gar nichts zu tun. Das ist die alleinige Schuld der Bundesregierungen, der Kapitalisten im Allgemeinen und der Treuhand im Besonderen. Die haben, folgt man den DDR-Schönrednern, blühende Landschaften in Industriebrachen umgewandelt. Dass viele DDR-Betriebe nach 40 Jahren Marx- und Murks-Wirtschaft schlichtweg nicht wettbewerbsfähig waren, ist natürlich böse West-Propaganda.

DDR-Bürger politisch passiv, aber beeinflussbar


Gleichwohl: Auch im Unrechtsstaat DDR gab es glückliche Menschen. Kein Wunder, dass bei den Ostdeutschen im Blick zurück die positiven Erinnerungen überwiegen – an Familie und Freunde, an einen nicht gut bezahlten, aber sicheren Arbeitsplatz, an eine Gesellschaft, in der es weniger Wettbewerb, weniger Ungleichheit und weniger Neid gab, vom Klassenunterschied zwischen der SED-Nomenklatura und den Werktätigen einmal abgesehen. Wer sich damit abgefunden hatte, nicht ins westliche Ausland reisen zu dürfen, und nicht darunter litt, sich politisch nicht frei äußern zu dürfen, konnte sein privates Glück durchaus genießen. 

Günter Gaus, langjähriger Bonner Vertreter in der DDR, beschrieb 1983 in seinem Buch „Nischengesellschaft“ die DDR-Bürger als „Staatsvolk der kleinen Leute“, die – obwohl politisch überwiegend passiv – von der herrschenden Lehre nicht unbeeinflusst waren: „In den privaten Winkeln sind im Laufe der Jahrzehnte mehr Fakten, Vorstellungen und Maßstäbe des real existierenden Sozialismus heimisch geworden, als allen Nischenbewohnern immer bewusst ist.“ Genau an diese unterschwellige Verbundenheit vieler Menschen mit „ihrer DDR“ appellieren die Gysis dieses Landes, wenn sie die real existierende Unmenschlichkeit des SED-Regimes verharmlosen oder gar ins Gegenteil verklären.

So wird die These „Reality is irrelevant; Perception is everything“ in der Auseinandersetzung über den Unrechtsstaat DDR eindrucksvoll bestätigt: Die Wirklichkeit von einst spielt keine Rolle mehr; auf die Wahrnehmung kommt es an. Das muss man neidlos anerkennen: Im Kampf um Worte und Begriffe schlagen sich die DDR-Anwälte bravourös. Chapeau, Herr Gysi!

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