- Was ändert sich mit der Entscheidung?
Ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erlaubt in engen Grenzen Militäreinsätze in Deutschland. Das war lange Zeit äußerst umstritten. Doch was ändert sich mit der neuen Entscheidung wirklich?
Am 11. September 2001 brachten islamistische Terroristen des Al-Qaida-Netzwerks vier Passagiermaschinen in den USA in ihre Gewalt. Zwei steuerten sie in die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York – mehr als 3000 Menschen starben. Unter dem Eindruck dieser historisch beispiellosen Attacke wurden weltweit Anti-Terror-Gesetze auf den Weg gebracht. Auch in Deutschland, wo sie in Anspielung auf den Vornamen des damaligen Innenministers Schily (SPD) medial das Ticket „Otto-Pakete“ verpasst bekamen.
Die Gesetzgebung beschleunigte sich hierzulande noch einmal, als 2003 der Pilot eines Motorseglers damit drohte, sich in eines der Hochhäuser des Frankfurter Bankenviertels zu stürzen.
2005 trat das umstrittene Luftsicherheitsgesetz in Kraft, ein Gesetz, das als äußerste Maßnahme eine „unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ gegen ein Flugzeug erlaubte, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“.
Diese Abschussbefugnis sollte auch dann bestehen, wenn sich an Bord des Flugzeugs unbeteiligte Personen, beispielsweise entführte Passagiere, befinden. An dieser Regelung stießen sich die Karlsruher Richter und erklärten das Gesetz 2006 für verfassungswidrig – dieses sechs Jahre alte Urteil des Ersten Senats wurde am Freitag teilweise geändert.
Wie kam es zu der Entscheidung?
Bayern und Hessen hatten eine Normenkontrolle des Luftsicherheitsgesetzes angestrengt. Mit seinem Urteil vom Februar 2006 strich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Vorschrift zum Abschuss entführter Passagierflugzeuge unter anderem wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde. Das Gericht schloss damals die Anwendung von militärischer Gewalt in solchen Unglücksfällen aus. Trotzdem hielten Bayern und Hessen an ihrer Klage fest, da sie Zweifel unter anderem an der gesetzgeberischen Zuständigkeit haben. Zuständig dafür ist aber der Zweite Senat. Er wollte von dem Urteil des Ersten Senats abweichen und rief deshalb das Gerichtsplenum aus allen 16 Richtern der beiden Senate an.
Worum ging es?
Neben Fragen der Gesetzgebungskompetenz ging es um die Zulässigkeit von Militärmitteln in Katastrophenfällen. Dem Zweiten Senat missfiel die strikte Haltung der Richterkollegen von 2006. Das Plenum einigte sich darauf, dass der Einsatz von Kampfmitteln unter engen Voraussetzungen erlaubt ist, allerdings nur als ultima ratio.
Wie wurde der Beschluss begründet?
15 von 16 Richtern entschieden sich für diese Verfassungsauslegung wegen der Nähe zwischen den Einsatzregeln der Streitkräfte im Unglücksfall und denen in Notstandssituationen. Sie betonten angesichts heutiger Bedrohungslagen eine „zweckgerechte Auslegung“. Nur Richter Reinhard Gaier warf dem Plenum in einem Sondervotum vor, nun könne das Militär als Machtinstrument wieder missbraucht werden. Gaier ist der einzige amtierende Richter, der das Urteil des Ersten Senats vor sechs Jahren mitgetragen hatte. Die anderen haben das Gericht mittlerweile verlassen. Auch dies dürfte ein Grund sein, weshalb der Zweite Senat den Ersten nun auf seine Seite ziehen konnte.
Wie wurde die Bundeswehr bisher im Innern eingesetzt?
Das Grundgesetz legt fest:, „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“, und „außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“. Ausdrücklich lässt es nur zwei Ausnahmen zu, nämlich den Einsatz bei Naturkatastophen – man denke an die Bilder von Sandsack schleppenden Bundeswehrsoldaten bei der Oder- und Elbeflut – oder zur Gefahrenabwehr, wenn der Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gefährdet ist.
Im Verteidigungs- und Spannungsfall kann die Bundesregierung die Streitkräfte zum Schutz ziviler Objekte und bei der Bekämpfung „organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ einsetzen, aber nur, wenn Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz oder andere Sicherheistbehörden die Aufgaben allein nicht mehr bewältigen können.
Was ändert sich?
Nach dem gestrigen Beschluss darf die Bundeswehr nun bei Einsätzen im Inneren in Ausnahmefällen auch militärische Mittel zur Abwehr von Gefahren nutzen – das ist neu und gilt vielen als Tabubruch. Die Richter haben diese Ermächtigung, so sie denn als solche verstanden wird, allerdings an sehr strikte Bedingungen geknüpft. Voraussetzung ist ein Ereignis „von katastrophischen Dimensionen“. Woran das Verfassungsgericht dabei denkt, ließ es offen, was für ein Fall der Fall der Fälle sein könnte, bleibt deshalb auch nach dem Beschluss ein Rätsel.
Ausdrücklich stellte Karlsruhe fest: Nicht jede Gefahrensituation, die ein Bundesland nicht mit seiner Polizei beherrschen könne, erlaube den Einsatz der Streitkräfte. Der Eintritt katastrophaler Schäden müsse schon „unmittelbar bevorstehen“. Und auf gar keinen Fall sei ein Einsatz erlaubt wegen Gefahren, „die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, etwa bei Protesten gegen G-8-Gipfel oder ähnliches. Auch ein Abschuss von Passagiermaschinen – um im Fall eines Terrorangriffs Schlimmeres zu verhindern –, bleibt verboten. Menschenleben dürften nicht gegen Menschenleben aufgerechnet werden, so die Begründung der Richter. Der Einsatz der Streitkräfte wie auch der spezifisch militärischer Abwehrmittel sei nur als letztes Mittel zulässig.
Zudem stellte das Gericht eine weitere Hürde auf, die das Verfahren betrifft: Über den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr im Inland müsse stets die Bundesregierung als Ganzes entscheiden, verkündeten die Verfassungsrichter. Die Entscheidung dürfe auch in Eilfällen nicht auf einen einzelnes Regierungsmitglied – etwa den Verteidigungsminister – übertragen werden.
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