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Demokratie - Die Briefwahl unterhöhlt den Gleichheitsgrundsatz

Die massive Ausweitung der Briefwahl öffnet Manipulation Tür und Tor. Doch auch über die Bundetagswahl hinaus stellt sich die Frage, ob die Wahl per Post noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Die Bundestagswahl findet am 22. September statt. So verkünden es alle, denen die Demokratie am Herzen liegt, seit Monaten. An diesem Tag hat der Souverän das Wort. Dabei ist das allenfalls die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit hat die Wahl längst begonnen. Bereits seit Mitte August können die Deutschen ihre Briefwahlunterlagen beantragen. Seit 1. September können sie auch direkt im Bürgeramt ihrer Gemeinde wählen. In vielen steht sogar eine Wahlkabine.

Immer mehr Deutsche machen davon Gebrauch. Bei der letzten Bundestagswahl 2005 haben 9,5 Millionen Wähler schon vor dem Wahltag gewählt, das waren 21,4 Prozent aller Wähler, der Anstieg ist rasant. Seit 1990 hat sich die Zahl der Briefwähler verdoppelt. Als es 1957 das erste Mal möglich war, per Post zu wählen, waren es lediglich 4,9 Prozent.

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Briefwahl ist bequem. Der Ausflug am Wahltag kann stattfinden, der Urlaub muss nicht verschoben werden, auch der Sonntag im Bett ist nicht gefährdet. Das Angebot, das ursprünglich nur für solche Wähler galt, die das Wahllokal aus wichtigem Grund am Wahltag nicht aufsuchen konnten, weil sie zum Beispiel gebrechlich sind oder arbeiten mussten, hat sich zu einem Anspruch der dauermobilen Spaßgesellschaft gewandelt. Seit 2008 muss der Briefwähler seine Gründe nicht einmal mehr „glaubhaft“ machen. Und die Parteien werben mittlerweile offensiv für die Briefwahl zuim Deutschen Bundestag.

Hohe Dunkelziffer an Manipulationen bei Briefwahlen

Die massive Ausweitung der Briefwahl öffnet der Wahlmanipulation Tür und Tor. Briefwahlunterlagen können sehr leicht kopiert und Vollmachten einfach gefälscht werden. Wahlbriefe können auf dem Postweg „verschwinden“ oder im Reißwolf landen. Niemand kann zudem kontrollieren, ob nicht die Pfleger im Altenheim, der Ehemann für seine Frau oder die Mutter für ihren Sohn das Kreuz auf dem Wahlzettel gemacht haben. Wenn Wahlhelfer der Parteien bei der Ausfüllung der Briefwahlunterlagen behilflich sind, ist das Wahlgeheimnis nicht mehr garantiert. Es sage niemand, dies seien unrealistische Horrorszenarien. Das hat es alles schon gegeben. Aus der Geschichte der Bundesrepublik sind zahllose Manipulationsversuche im Zusammenhang mit der Briefwahl aktenkundig. Und die Dunkelziffer ist hoch.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Briefwahl in mehreren Urteilen dennoch für verfassungskonform erklärt. Sie diene dem Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen. Die Briefwahl trage dem Grundsatz der allgemeinen Wahl in erhöhtem Maße Rechnung, so die Karlsruher Richter in einem Urteil aus dem Jahr 1981 (2 BvC 1/81). Der Gefahr von Manipulation und Missbrauch könne der Gesetzgeber auf anderem Wege entgegenwirken.

Das Bundesverfassungsgericht sagt allerdings auch, durch die Briefwahl dürfe „keiner der vor allem das Demokratieprinzip konkretisierenden Wahlrechtsgrundsätze unverhältnismäßig eingeschränkt“ werden.

In Artikel 38 Grundgesetz heißt es, „die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“

Als 1949 mit Blick auf die deutsche Geschichte diese Wahlrechtsgrundsätze formuliert wurden, da dachten die Väter des Grundgesetzes beim Thema Gleichheit an Einkommen, an Bildung oder den Berufsstand. Sie legten fest, jede Stimme zählt gleich. Es gibt keine Wahlmänner, deshalb ist die Wahl unmittelbar, und es niemand wird wegen seines Geschlechts, seiner Rasse oder seiner Religion von der Wahl ausgeschlossen, deshalb ist sie allgemein.

Syrienkrieg und Stinkefinger waren Anfang September noch nicht absehbar

Im 21. Jahrhundert jedoch vollziehen sich politische Prozesse gelegentlich unter starkem Zeitdruck, politische Debatten entfalten sich in rasendem Tempo, Wahlkämpfe konzentrieren sich auf die letzten Tage vor der Wahl, eine Umfrage jagt die nächste. Es ließe sich also fragen, ob die Wahl noch allgemein, unmittelbar und gleich ist, wenn sich diese faktisch über drei Wochen erstreckt, wenn Wähler somit unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ihre Stimme abgeben. Daran kann man mittlerweile seine Zweifel haben. Vor allem deshalb, weil bei vielen Wählern nicht mehr langfristige Parteienbindungen, sondern kurzfristige Interessen, Eindrücke aus dem Wahlkampf oder taktische Erwägungen bei der Wahlentscheidung eine entscheidende Rolle spielen.

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Wer zum Beispiel bereits Anfang September gewählt hat, der wusste noch nichts von einem drohenden Syrienkrieg, der wusste wenig darüber, wie weit die Pläne für ein neues Rettungspaket für Griechenland bereits fortgeschritten sind. Viele Details aus dem NSA-Skandal waren noch nicht enthüllt, manche Koalitionserwägungen von Union und CDU, FDP, Grünen und Linken noch nicht öffentlich. Auch Peer Steinbrücks Stinkefinger hatte noch keine Schlagzeilen gemacht. Vielleicht bereut mancher Früh-Wähler nun seine Wahlentscheidung. Pech, so könnte man sagen, wer zu früh wählt, den bestraft das Leben.

Nur: Eine allgemeine, unmittelbare und gleiche Wahl setzt auch voraus, dass alle Wähler über den gleichen Informationsstand zu politischen Ereignissen, über die Einstellungen der Kandidaten und die Pläne der Parteien verfügen, beziehungsweise verfügen können. Wenn mittlerweile jedoch jeder fünfte Wähler seine Stimme lange vor dem eigentlichen Wahltag abgibt, wenn die Briefwahl nicht mehr die Ausnahme, sondern die demokratische Regel darstellt, ist dies nicht mehr gewährleistet. Dann unterhöhlt die Briefwahl die Grundprinzipien einer demokratischen Wahl.

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