- Die Jugend verwechselt Freiheit mit Grenzenlosigkeit
Anquatschen, bedrängen, beleidigen – und das ohne Folgen. Die Generation Smartphone verwechselt Freiheit mit Grenzenlosigkeit
Berlin, Spätsommer 2013: Eine Polizistin und ein Polizist fahren Streife, nach Meinung von zwei jungen Türken zu langsam. Die BMW-Fahrer pöbeln die Beamten aus dem Autofenster an, überholen und blockieren den Streifenwagen.
Sie steigen aus, gehen drohend auf die Polizisten zu. Auch die steigen jetzt aus. Es gibt ein Handgemenge. Die Kommissarin wird ins Gesicht geschlagen.
Eine zweite Streife kommt hinzu. Sie nimmt die Personalien der Türken auf.
Und lässt sie weiterfahren.
Eine Menschentraube von mehr als 70 Jugendlichen, darunter viele junge Männer türkischer und arabischer Herkunft, verfolgt das gewalttätige Geschehen. Gaffer schießen Bilder und filmen. Ladenbesitzer schließen ihre Türen.
Es ist keine zehn Jahre her, da beklagte der Historiker Joachim Fest das Fehlen von Krawatten auf dem Kurfürstendamm. T-Shirts und offene Hemdkragen signalisierten aus der Sicht des distinguierten Intellektuellen einen eklatanten Verlust von Bürgerlichkeit.
Doch die Zeit schreitet fort, hat uns ein gehöriges Stück weitergebracht. Heute dürfen Gewalttäter Gendarmen an die Gurgel, ohne mit Widerstand der Passanten – der Bürger – rechnen zu müssen, auch nicht mit Festnahme.
Der Verfall ist in vollem Gange
Das Bürgertum dankt ab. Sein Rechtsstaat dankt ab.
Die Berliner Zeitung forderte von den Tätern „mehr Respekt, bitte!“ für die Polizei – und rief den tatenlosen Gaffern ein „schämt euch!“ zu.
Das Mutigste an der ganzen Kalamität waren die zwei Ausrufezeichen im Kommentar der Lokalzeitung.
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Der Verfall der bürgerlichen Alltagskultur hat die Gesellschaft voll erfasst.
Jüngst schrieb der Tagesspiegel: „In Zügen und auf Bahnsteigen wird nachts gepöbelt, gedroht und manchmal auch geschlagen.“ Das Berliner Blatt berichtete akribisch, wie Provokationen und Belästigungen vonstattengehen, wie besonders Frauen, alte Menschen und schwächere Jugendliche eingeschüchtert werden: anquatschen, körperlich bedrängen, beleidigen. Sich an der Angst der Opfer weiden.
Gewalttätige Übergriffe sind nur der spektakulärste Ausdruck urbaner Dekadenz. Dagegen noch harmlos, aber nicht minder augenfällig ist die Schmutzspur, die der Niedergang bürgerlicher Gesittung hinter sich herzieht.
Parks nach Wochenenden, Seeufer nach Sommertagen gleichen Müllhalden: zersplitterte Flaschen, Plastikabfälle,
Essensreste, Kondome, Fäkalien. Wo immer Jugend sich verabredet, ist nach dem Fest kein Platz mehr für ordentliche Bürger.
Es gibt sie noch, diese Bürger, aber sie finden keine Fürsprecher mehr – nicht in der Politik, nicht in der Justiz, vor allem nicht in den Medien, die sich lustvoll dem Jugendkult verschrieben haben: schönfärbend, abwiegelnd, gern auch im Ton süffisanter Verachtung für den braven Kleinbürger, der seine Abfälle entsorgt, wenn er nach Hause geht, der nicht auf dem Gehsteig Rad fährt, weil er auf Fußgänger Rücksicht nimmt, der Musik in Zimmerlautstärke hört, um seinem Nachbarn nicht die Ruhe zu rauben.
Bürger, die den Rasen nicht betreten, weil es verboten ist – zum Schießen!
Zürich, das neue Monaco, nennt die Vermüllung seiner Plätze und Promenaden durch die Generation Smartphone beschönigend „littering“. Für die Herrchen und Dämchen, die sich in öffentlichen Parkanlagen verlustieren, ist es selbstverständlich, dass Müllmänner hinter ihnen aufräumen, verfügt man doch auch in der Villa am Zürichberg oder an der Goldküste über entsprechendes Personal.
Statt hinter dem Jugendpack herzuräumen, könnte man ja mal mit ihm aufräumen: durch Polizeistreifen, durch Strafbefehle – bei Widerstand durch Mitnahme auf die Wache. So hat Bürgermeister Giuliani aus dem Dreckskaff New York wieder eine saubere und sichere Weltmetropole gemacht.
Kein Unterschichten-Problem
Doch in Deutschland wie in der Schweiz gelten Maßnahmen der autoritären Art als unschicklich. Schicklich hingegen ist Toleranz, im Grunde eine bürgerliche Tugend, letztlich allerdings arg ramponiert, ja pervertiert: Tolerant ist, wer schweigt, wenn Horden selbstermächtigter Jugendlicher oder junger Erwachsener die Sau rauslassen.
Auch der urbürgerliche Begriff Freiheit hat sich verflüchtigt, fände Freiheit doch ihre Grenzen an der Freiheit des anderen, ist Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft doch stets ein zivilisatorisch eingehegtes Territorium der Selbstentfaltung.
Was bedeutet: Die Freiheit des Bürgers besteht darin, dass er die Musik nicht anhören muss, die andere aufdrehen; dass er den Müll nicht akzeptieren muss, den andere hinterlassen; dass er die Aggression nicht hinnehmen muss, mit der andere ihn bedrängen.
Ja, so war die bürgerliche Gesellschaft einmal gedacht. Aber wer denkt darüber heute noch nach? Wer tut es unten, wo die Smartphone-Generation Freiheit mit Grenzenlosigkeit verwechselt? Wer oben, in den güldenen Gefilden der gehobenen Gesellschaft?
Wenn es denn zutreffen sollte, dass Elite Vorbild zu sein hat für Nachwachsende, dann müssten die Verantwortlichen der Verluderung dort gesucht werden, wo nur noch zählt, was man für sich selbst zusammenrafft; wo jeder nur noch seines eigenen Glückes Schmied zu sein hat; wo der bürgerliche Staat nur noch als hinderlich wahrgenommen wird.
Der Ungeist von oben zeichnet sich ab, wirft Schatten tief unten, wo der Rest der Gesellschaft nun mal noch da ist: in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Parks, an den Seeufern, auf den Straßen nachts, auf den Gehsteigen tagsüber.
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