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Angela Merkel - Mutti kratzt die Reformkommunistin nicht

Kisslers Konter: Die Enthüllungen um Angela Merkels Vorleben werden ihren Popularitätswerten nichts anhaben. In der Rolle der Mutter der Nation ist sie unschlagbar

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Ein Buch, das heute erscheint, resümiert „Das erste Leben der Angela M.“. Die Autoren gelangen zu dem Schluss, die Bundeskanzlerin sei „von Schulzeiten an in die politischen Organisationen des SED-Staates eingebunden gewesen“, „und dies nicht als Mitläuferin, sondern als Funktionärin.“ Merkel gehörte demnach der Betriebsgewerkschaftsleitung der Akademie der Wissenschaften der DDR an. Zudem war sie laut Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann, die sich auf Zeitzeugen berufen, Beauftragte der FDJ für Agitation und Propaganda. Weder habe sie, die „Reformkommunistin“, die deutsche Einheit gewollt noch stünden bei ihr je politische Inhalte im Mittelpunkt. Für Merkel sei Macht Selbstzweck. Deshalb auch habe sie nach dem Ende der DDR eine Legende in die Welt gesetzt, „die Legende von der patriotischen Pfarrerstochter, die in der Wende auszog, um mitzuhelfen, die gespaltene Nation zusammenzufügen.“

Zu Recht stößt das solide recherchierte Buch auf großes Interesse. Gar zu schmallippig hat sich Angela Merkel bisher zu ihrer Vergangenheit in der Diktatur geäußert. Jedes neue Mosaiksteinchen trägt zum Erkenntnisgewinn bei. Dass indes Merkel auch damals schon so gewesen sein soll, wie sie heute wahrgenommen wird, pragmatisch den jeweiligen Zeitgeist exekutierend, taugt nicht zur Sensation. Meisterin des Relativen wird man nicht über Nacht. Und Minister, Parteivorsitzende, Kanzler haben immer ein erotisches Verhältnis zur Macht, unbeschadet des Geschlechts.

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Ein Drittes dürfte den Nimbus der Angela Merkel unangetastet lassen: ihr mittlerweile perfektioniertes Image als Kümmererin mit der Extraportion Mutterwitz. In dieser Rolle geht sie auf. In jüngster Zeit war dieses Solostück zu bestaunen in einem Kino, wo sie sich coram publico ihren Lieblingsfilm „Die Legende von Paul und Paula“ anschaute und anschließend ausgesprochen munter über „Kirsch-Wodka“ und die Nachteile der Kohlenlagerung im Hinterhof plauderte. Oder aber vor dem Deutschen Ethikrat. Dort trug die Kanzlerin Flieder. Was lehrte diese Stunde über die Stunde hinaus?

In den Farben des Frühlings also war „der Hosenanzug“ – so die stehende Wendung des Kabarettisten Urban Priol  – im Französischen Dom zu Berlin erschienen. Angela Merkel gab allerhand Anlass wie Material, über jenen Begriff nachzudenken, der an ihr haftet wie die Ackerkrume an der Uckermark, den Mutterwitz. Sie hörte zu, was das Volk, ihr Volk ja letztlich, über den demographischen Wandel bekümmerte. Kein Finger rührte sich zu ihrem Einzug, der eher ein Hineinschlendern in den Dom war, und als sie saß in erster Reihe, wird sie sich gedacht haben, dass es gerade recht gewesen sei, mittenmang in den Dom zu schlendern, ohne jeden Schisslaweng, denn welche Mutter hat je mit Applaus gerechnet für ihr Wirken und Werken, und sei es die Mutter der Nation?

Angela Merkel weiß, wie man Einverständnis herstellt und Witz und Wärme produziert: indem man seinem eigenen gemütlichen Takt folgt, die Zuhörer durch Umgangssprache ans Lagerfeuer der eigenen Ansichten lädt und sich selbst sacht auf die Schippe nimmt. Wenn schon, wie im Fall der Kanzlerin, die eigenen Züge keine Mördergrube sein können, weil es zwickt und zwackt und sich verengt im Gesicht, dann muss die ganze Erscheinung einen Geist der Umweglosigkeit atmen. Typisch war der Satz, mit dem sie die trostlose demographische Situation in ihrer Heimat zugleich ironisierte wie zementierte: In die Uckermark müsse sie nicht fahren, um sich Mehrgenerationenhäuser vorführen zu lassen, „denn da weiß ich, wie es ist.“

Darin steckt der Kern des Merkelschen Weltzugangs: Wissen, wie es ist, wie es bestellt ist um Deutschland, die Pappenheimer also kennen und sie darum sanft vom Sofa der Selbstgenügsamkeit scheuchen dürfen. So war denn auch im Dom jeder Kanzlerinnenwitz Auftakt zu einer Ermahnung. Sie lächelte lang, als ein Ethikratsmitglied über Multimorbidität vortrug und erklärte, Lebensstilveränderung im Alter sei schwierig. Ja, sagte Merkels Lächeln, das kenne ich, sei es vom Mann, sei es von sich selbst, einer bald Sechzigjährigen. Und laut lachte sie später auf, scherzend mit Altbischof Wolfgang Huber, wodurch ihr der Appell glatt entging, ein ganzheitliches Konzept der Gesundheitsvorsorge sei nötig. So gab sie sich als freches Mädchen, das nicht immer aufpassen muss, wenn die Lehrerin redet, weil sie weiß, wie es ist.

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Mutterwitz ist Sprache und Bild zugleich, ist das verschämte Die-Köpfe-Zusammenstecken und in gespieltem Ernst Zu-Boden-Blicken, das Merkel perfektioniert hat, ist aber auch die wurschtige Rede von den „irrsinnig vielen Krankheiten“, gegen die ein Kraut namens „20 Minuten Betätigung am Tag“ gewachsen sei, und von den ebenso vielen Situationen im Gesundheitswesen, „wo es vorne und hinten nicht passt.“ Die Ermahnungen, die auf einem solchermaßen gut vorgewärmten Boden gedeihen, sind von ebenso zupackender, wiewohl weitreichender Art. Beruf und Familie – in dieser Reihenfolge – „müssen vereinbart werden“, in einigen Jahren sei das „sehr normal“. Da darf es keinen Widerspruch geben – ebenso wenig wie bei der Zurückweisung des Anspruchs, „alle Gerechtigkeit“ müsse der Staat „herstellen“. Seid subsidiär, liebe Deutsche! Und drittens – „da schütteln Sie jetzt den Kopf“, beschied sie einem Zuschauer – werde es bald „bei uns Schwarze geben, die Deutsche sind.“ Diese Menschen solle man nicht als Erstes fragen, „können Sie schon Deutsch?“ Das Publikum lachte wissend mit.

Merkels Mutterwitz ist die vielgestaltige Ausschattierung eines Globalwissens, das sich klein macht. Die Expertin in angewandtem Deutschsein weiß aus eigener Anschauung und Erfahrung, wie sich das Altern anfühlt, wie leere Straßenzüge ausschauen, wie zugezogene Deutsche irritieren können. Wer „weiß, wie es ist,“ kann auf alles zuschlendern, ihn überrascht nichts, er erwartet nicht zu viel. Sein Weg ist nur ein Weg. Ob daraus dann eine gute Politik resultiert, klärt gewiss einmal ein Ethikrat. Vor den Richtstuhl der historischen Wahrheit hingegen mag Angela Merkel sich nicht zerren lassen – und ist darin wiederum passgenauer Ausdruck eines Volkes, ihres Volkes ja letztlich.

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