- „Das Misstrauen gegen die Politik ist weit verbreitet“
Der Politikwissenschaftler Roland Roth untersucht Protestbewegungen und skizziert im Gespräch mit Cicero Online die Zukunft der Demonstranten gegen Stuttgart 21, das zunehmende Misstrauen gegenüber Politikern, Journalisten und anderen Professionellen und die Konsequenzen, die sich daraus für die Demokratie ergeben.
Herr Roth, hat die Bewegung der Stuttgart-21-Gegner jetzt ausdemonstriert?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe 14 Tage vor der Wahl eine Veranstaltung mit den Stuttgart21-Gegnern miterlebt. Die hat mir deutlich gemacht, das Wahlergebnis ist für die Bewegung nur von untergeordneter Bedeutung. Sie werden an ihren Zielen festhalten. Das heißt, wenn die Ergebnisse der neuen Landesregierung nicht wie erwartet sein werden, wird auch sie sich Protesten und Demonstrationen gegenübersehen. Es ist ein enormes Selbstbewusstsein spürbar in dieser Bewegung. „Nichts ohne uns“ lautet die große Parole.
Können Sie diese Bewegung noch einmal aus der Sicht eines Wissenschaftler skizzieren?
Dort ist ein bürgerschaftliches Selbstbewusstsein entstanden, das besagt: Große Projekte, die unser Leben massiv verändern werden, dürfen nicht ohne unsere Beteiligung und Zustimmung umgesetzt werden. Es gibt einen weiteren Punkt: Die Leute sind sehr misstrauisch gegenüber den Motiven der Befürworter des Bahnprojekts. Das reicht von der Spätzle-Connection und den dubiosen Verquickungen von Bau- und Tiefbauunternehmen sowie Bahnbefürwortern einerseits bis hin zu der Erfahrung, dass man schlicht hinters Licht geführt wurde. Der CDU-Politiker Wolfgang Schuster etwa sagte vor seiner Wahl zum Oberbürgermeister, er wolle eine Volksabstimmung anstreben. Nach der Wahl hieß es, das ginge aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht. Die Bürger und Bürgerinnen wollen die Sache mitentscheiden, weil sie den Repräsentanten nicht über den Weg trauen und dafür aus ihrer Sicht auch eine Menge Belege haben.
Ist dieses Misstrauen typisch für solche Bewegungen, oder sehen wir hier eine neue Entwicklung?
Neu ist die enorme Verbreitung dieses Misstrauens. Entsprechende Befragungen über das Vertrauen in Regierung, in Kommunen und auf Bundesebene belegen, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung misstrauisch sind. Nach dem Motto: Es wird sich nicht am Gemeinwohl orientiert, sondern an anderen Verpflichtungen. Oder an Lobbyinteressen, wie sie bei Repräsentanten der rot-grünen Regierung schmerzhaft erfahren haben. Viele Wähler haben die Erfahrung gemacht, dass Regierungsmitglieder nach dem Ausscheiden aus der Politik schnell Branchen wechseln, die sie vorher politisch für sich zurechtgelegt haben. Das geht von Gerhard Schröders Tätigkeit für Gazprom bis zu Walter Riesters Engagement für den beim Finanzkonzern AWD.
Die Konsequenz, die die Bürger daraus ziehen ist: Dann müssen wir es selber machen. Die Legitimationsdecke repräsentativer Politik ist außerordentlich dünn geworden. Gerade die schwarz-gelbe Bundesregierung hat mit ihrer Nacht- und Nebel-Ausstiegsentscheidung aus dem Atomkompromiss, bei der am Ende noch die großen vier Energieunternehmen mit am Tisch saßen, erheblich dazu beigetragen.
Wie geht die Politik damit um?
Es gibt mittlerweile eine selbstverpflichtende Erklärung einiger großer deutscher Städte, die besagt: Wir werden keine Entscheidungen wie zum Beispiel große Infrastrukturprojekte, die weit in die Zukunft reichen, mehr vorantreiben, ohne eine umfangreiche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. In der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wird dazu gerade ein Partizipationshandbuch entwickelt, das Maßstäbe und Verfahren an die Hand gibt, wie die Bürgerbeteiligung künftig zu organisieren ist.
Und was bedeutet das jetzt für die Grünen in Stuttgart? Wie können sie einer Enttäuschung in der Sache Stuttgart 21 vorbauen?
Die Grünen können nur dann Enttäuschungen vorbauen, wenn sie das tun, was ihr Spitzenkandidat Winfrid Kretschmann auch angekündigt hat: Sie müssen zuhören und die Entscheidung mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam treffen. Bisher war grüne Politik eher strukturkonservativ und genauso abgehoben und bürgerfern wie die Regierungen, an denen sie beteiligt war. In dieser Hinsicht waren sie eine stinknormale Partei. Nun müssen sie diese Lektion lernen. Das Führungspersonal auf Bundesebene steht jedoch eigentlich nicht dafür.
Aber dem Ministerpräsidenten Kretschmann in Baden-Württemberg trauen Sie dies zu?
Dem traue ich es zu, weil er den Protest hautnah erlebt hat und sich vielleicht daran erinnert, dass dieser Bürgerprotest ihm seinen Erfolg erst ermöglicht hat.
Dieses Misstrauen, von dem Sie vorhin gesprochen haben, spüren auch Journalisten in ihrer täglichen Arbeit…
Ja, natürlich. In der Region Stuttgarter sowieso, weil die Monopolpresse dort 20 Jahre lang für Stuttgart 21 Politik gemacht hat. Die Gegner ließen die Zeitungen nicht zu Wort kommen und als die Journalisten die Probleme nicht mehr leugnen konnte, haben sie diese verunglimpft. Die Medien haben jede Form von Ausgewogenheit und Objektivität vermissen lassen. Sie werden von den Gegnern als Teil des Problems angesehen und nicht als Lösung. Die Hoffnungsträger, die wirklich zählen, sind das Internet, Twitter und andere soziale Netzwerke, bei denen sie den Eindruck haben, dass ein relativ herrschaftsfreier Meinungsaustausch möglich ist.
Haben nur Journalisten mit diesem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen?
Nein. die Bürgerinnen und Bürger sind gegenüber Professionellen grundlegend misstrauisch geworden, ob das nun Architekten, Ingenieure oder Medienleute sind. Die Menschen wollen sich ihre eigene Meinung bilden. Sie sind in der Regel gut gebildet und holen sich die Fakten, die sie brauchen, aus dem Internet. Insofern sind sie selbstbewusster und misstrauischer und dabei nicht mehr so einfach zu führen und zu verführen. Das ist der Guttenberg-Effekt. Alles ist sehr schnell überprüfbar geworden – und damit werden die Machtverhältnisse etwas demokratischer.
Das Interview führte Marie Preuß
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