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Flüchtlingswege - Nun wieder über Libyen

Von der Schließung der Balkanroute profitieren die Schlepperbanden in Ägypten und Libyen. Bis zu 200.000 Fluchtwillige vermuten die westlichen Geheimdienste an der libyschen Küste. Dort hat sich der IS eingenistet

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Martin Gehlen ist Journalist und berichtet aus der arabischen Welt.

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Die ägyptischen und libyschen Schlepper reiben sich die Hände. Seit letztem September lag ihr Flüchtlingsgeschäft am Boden. Nach dem EU-Gipfel mit der Türkei hoffen sie wieder auf goldene Zeiten. Die Balkanroute ist blockiert, auf der sich in den letzten sechs Monaten Hunderttausende gen Norden durchschlugen. Bald jedoch könnten sich wieder Zehntausende Syrer, Iraker und Afghanen auf die Facebook-Annoncen aus Nordafrika melden, mit denen örtliche Menschenschmuggler ihre Boottrips nach Lampedusa anpreisen. In Ägypten geht es meist in der Region um Alexandria an Bord und zunächst an der Küste entlang bis nach Libyen. Dort werden die Flüchtlinge auf hoher See in größere Kähne umgeladen, die sie dann nach Italien bringen sollen.

200.000 Fluchtwillige in Libyen
 

In Libyen selbst schieben die Schlepper die voll besetzten Schlauchboote inzwischen nur noch vom Strand aus kurz über die 12-Meilen-Grenze in internationale Gewässer. Dann setzen sie bei den Schiffen der Nato-Operation „Sophia“ einen Notruf ab, damit deren Besatzungen die Menschen aus dem Mittelmeer fischen. „Das ist mittlerweile eine wohl organisierte Übergabe“, bilanzierte bitter ein europäischer Diplomat. Allein in der vergangenen Woche nahmen deutsche und italienische Kriegsschiffe 3100 Schiffbrüchige an Bord. Viele ihrer Boote hatten nicht einmal genug Treibstoff für die gesamte Überfahrt. Westliche Geheimdienste schätzen, dass momentan 150.000 bis 200.000 Fluchtwillige in Libyen warten.

„Migranten wollen nach wie vor in die EU und das organisierte Verbrechen wird ihnen jetzt andere Routen anbieten“, erläutert Wil van Gemert, Vizechef von Europol. Anders als bisher, würden die Schmuggler in Zukunft wohl verdeckter operieren und schwierigere Routen benutzen. Nach einer Europol-Übersicht ist der Menschenhandel inzwischen die am schnellsten wachsende kriminelle Branche in Europa. Der Umsatz wird auf drei bis sechs Milliarden Euro geschätzt. Dieser gigantische Betrag könnte sich noch einmal verdoppeln, wenn die Massenflucht aus dem Nahen und Mittleren Osten im gesamten Jahr 2016 genauso weitergeht wie in den letzten Monaten, kalkuliert die internationale Polizeibehörde.

Lampedusa-Strecke wieder die Haupttrasse
 

Die genauen Dimensionen werden sich zeigen, sobald das Wetter auf See besser wird. Über die Italienroute kamen seit Beginn des Jahres bisher 12.000 Flüchtlinge, während in der Ägäis gleichzeitig 143.000 Menschen übersetzten. Doch nach dem Stopp zwischen Türkei und Griechenland wird wohl der riskantere Seeweg über das Mittelmeer – wie vor dem September 2015  wieder zur Haupttrasse mutieren. „Es besteht das Risiko, dass die Flüchtlingswelle zwei- bis dreimal höher ausfällt als bisher“, warnte kürzlich Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sissi.

Und so befürchten EU-Diplomaten, dass nun auch der Machthaber am Nil, angestachelt durch das Beispiel seines türkischen Intimfeindes Recep Tayyip Erdogan, das heraufziehende Flüchtlingsdrama vor seiner und Libyens Küste für Milliardenhilfen aus Brüssel ausschlachten könnte. Nach Angaben des UNHCR nutzten im Jahr 2015 rund 150.000 Menschen die Route nach Italien, 20.000 weniger als im Jahr zuvor. Behält Sissi mit seinen Prognosen Recht, könnten 2016 allein in Lampedusa zwischen 300.000 und 450.000 Menschen stranden.

Österreich droht mit Schließung der Brenner-Grenze
 

Italien befände sich sehr schnell in der gleichen Lage wie Griechenland, zumal die anderen europäischen Staaten die bisherige Praxis nicht mehr akzeptieren, an den südlichen Küsten Gestrandete einfach unregistriert weiterreisen zu lassen. Österreich kündigte bereits an, die Grenze am Brenner notfalls zu schließen. Auch Frankreich will keine Flüchtlinge aus Italien mehr aufnehmen. Die Schweiz verstärkte ihre Kontrollen an allen Grenzübergängen.

Um den massenhaften Menschenschmuggel von der libyschen Küste einzudämmen, würde die Nato am liebsten auch in den nationalen Gewässern des ölreichen Mittelmeeranrainers operieren, also die Phase „Sophia 2b“ aktivieren, wie es in ihrem internen Jargon heißt. Das jedoch geht nur, wenn eine libysche Gesamtregierung dies erlaubt, die bisher nur auf dem Papier existiert. Alle Versuche der Vereinten Nationen und ihres Vermittlers Martin Kobler, das in Tunis ansässige Schattenkabinett der Nationalen Einheit unter Premier Fayez al-Sarraj nach Tripolis zu transferieren, sind bisher gescheitert. Das eine Parlament in Tobruk warnte die internationale Gemeinschaft davor, Libyen „diese Regierung der nationalen Einheit aufzuzwingen“.

IS kontrolliert 300 Kilometer langen Küstenstreifen in Libyen
 

Das andere Parlament in Tripolis sprach von einer von außen oktroyierten Regierung, die „in der Hauptstadt nicht willkommen ist und keinen Platz in unserer Mitte hat“. Entsprechend düster fällt das Urteil des spanischen Premierministers Mariano Rajoy über Libyens Perspektiven aus. Die Regierung habe nicht die Unterstützung der Parlamente, kriminelle Mafiabanden organisierten den Flüchtlingsschmuggel und der „Islamische Staat“ dehne sich immer weiter aus, bilanzierte er.

Nach den jüngsten Erkenntnissen der Vereinten Nationen stoßen die Gotteskrieger in Libyen jetzt auch nach Süden in Richtung der Subsahara-Staaten Niger und Tschad vor und könnten sich bald mit der IS-Filiale von Boko Haram in Nigeria koordinieren. Nur innerhalb eines Jahres stieg ihre Zahl von wenigen Hundert auf mehr als 5000. Rund um die ehemalige Gaddafi-Geburtsstadt Sirte kontrollieren sie mittlerweile einen 300 Kilometer langen Küstenstreifen. Ihre Regierung gilt als die einzige im Land, die tatsächlich funktioniert. „Wir werden jeden Tag stärker“, prahlte IS-Kommandeur Abdul Qadr al-Najdi und nannte Libyen die „Vorhut des Islamischen Kalifates“. Über 80 Prozent der Fanatiker sind Ausländer – Tunesier, Marokkaner, Algerier, Syrer, Iraker oder Jemeniten.

Großbritannien und USA beraten über Eingriff in Libyen
 

Und so wächst in Washington und den europäischen Hauptstädten die Sorge, dass sich die IS-Präsenz in dem zerfallenen Post-Gaddafi-Reich zu einer massiven Dauerbedrohung für das Mittelmeer auswachsen könnte. Großbritannien erklärte sich jetzt bereit, 1000 Soldaten zu der geplanten 6000 Mann starken Libyen-Eingreiftruppe beizusteuern. Auch das Pentagon hat bereits genaue Angriffspläne in der Schublade. Doch losschlagen wollen die Alliierten erst, wenn eine gesamtlibysche Regierung dafür grünes Licht gibt. Und die lässt weiterhin auf sich warten.

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