- „Doping“ ist ein Mythos!
An den ritualisierten Debatten über „Doping“ offenbart sich das Dilemma des Leistungssports in Zeiten, in denen das Leistungsstreben in Zweifel gezogen wird. Es ist an der Zeit, sich von dem Begriff "Doping" zu trennen
Olympia-Zeit ist Dopingjäger-Zeit. Alle Jahre wieder erschrickt die Welt angesichts der neuen Höchstleistungen, die die internationale Leistungssportelite zeigt. Dabei folgen die Athleten in ihrem Streben nach Rekorden lediglich der olympischen Devise, die da lautet: „Citius, altus, fortus“ – „Schneller, höher, stärker!“ Gelingen keine neuen Bestleistungen, wird schnell die Frage gestellt, wofür man sich als Gesellschaft die ganze Sportförderung überhaupt leistet. Wachsen Sportler aber über sich hinaus, so wird reflexhaft die Stirn in Falten gelegt. „Da war doch bestimmt Doping im Spiel!“, heißt es dann. Das öffentliche Urteil ist gefällt, bevor die Urinprobe überhaupt abgegeben ist. Schließlich sprechen die Indizien für sich. Welche Indizien das sind? Nun ja, die Leistung eben.
Der Leistungssport steckt in einem Dilemma: Höchstleistungen werden verlangt, in Höchstleistungen wird investiert, nur goutiert werden sie nicht, vor allem dann nicht, wenn sie scheinbar „unnatürlich“ sind. Dabei sorgt allein schon die Sport- und Elitenförderung dafür, dass hier nichts dem Zufall oder den Launen der „Natur“ überlassen wird. Und das ist auch gut so, denn Sport ist eine zutiefst unnatürliche Angelegenheit. Außer dem Menschen gibt es kein anderes Lebewesen, das „Sport“ treibt. Er ist ein rein künstlich geschaffenes Zivilisationsprodukt ohne natürliches Vorbild.
Ebenso wenig wie den natürlichen Sport gibt es eine „natürliche menschliche Leistungsfähigkeit“. Im Jahr 1922 stellte der US-amerikanische Leistungsschwimmer und spätere Tarzan-Darsteller Jonny Weissmüller einen Fabelweltrekord auf: Als erster Mensch schwamm er die 100-Meter Freistil in weniger als einer Minute. Mit dieser Zeit würde sich Weissmüller heute nicht einmal für Landesmeisterschaften der Jugendlichen qualifizieren. Dies liegt nicht daran, dass heute schon Jugendliche mit Steroiden oder ähnlichem vollgepumpt werden, sondern daran, dass die Menschen heute insgesamt zu größeren Leistungen fähig sind: Sie werden größer, leben gesünder (und deutlich länger), und sie werden stärker in ihren Leistungen gefördert als jemals zuvor.
Der Drang, die eigenen Leistungen wie auch das eigene Leben zu verbessern, ist ein durch und durch menschlicher. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir nicht mehr auf Bäumen leben, nicht mehr mit 40 Jahren an Altersschwäche sterben und nicht von aus heutiger Sicht banalen Krankheiten dahingerafft werden. Doch gerade solche Errungenschaften werden heute vielfach skeptisch beäugt. Die Abkehr von natürlichen Lebensweisen sowie das Überschreiten vermeintlich natürlicher Grenzen wird in einer Zeit, in der die Menschen sich selbst und ihrer Gattung misstrauisch gegenüberstehen, für zahlreiche gesellschaftliche Missstände verantwortlich gemacht. Ein möglichst natürliches oder zumindest nachhaltiges Leben gilt heute vielen Menschen als einzige Alternative.
Es ist dieser Zeitgeist, der den Diskussionen über die Verwendung leistungssteigernder Substanzen und Trainingsmethoden seine so große gesellschaftliche Bedeutung verleiht. „Doping“ erscheint als Inbegriff aller negativen Eigenschaften der modernen Gesellschaft. Betrachtet man die offizielle Definition des Begriffes „Doping“, wird deutlich, warum das so ist: Im olympischen Anti-Doping-Code wird „Doping“ definiert als „die Verwendung von Hilfsmitteln in Form von Substanzen und Methoden, welche potenziell gesundheitsschädigend sind und/oder die körperliche Leistungsfähigkeit steigern können“. Im Zentrum der Doping-Definition steht eine Liste von als verboten eingestuften Substanzen und Methoden.
Was auf den ersten Blick einleuchtend wirkt, entpuppt sich bei einer genaueren Betrachtung als ein Konstrukt, dass zwar dem skeptischen Zeitgeist Rechnung trägt, einer kritischen Untersuchung jedoch nicht standhält. Fakt ist: Nach Ansicht der der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) wäre jeder Mensch des Dopings schuldig. Wir alle tun kontinuierlich unnatürliche Dinge oder nehmen Substanzen zu uns, um unser Leben und unsere Leistungsfähigkeit zu beeinflussen. Ganz offensichtlich gibt es also für Leistungssportler akzeptable und inakzeptable Methoden der Leistungssteigerung. Doch wo genau verläuft die Grenze zwischen beiden, und warum verändert sie ihren Verlauf? Bis vor einigen Jahren stand Koffein auf der Liste der verbotenen Substanzen. Ist der morgendliche Espresso „Doping“? Macht es Sinn, Substanzen, die potenziell gesundheitsschädigend sein können, zu verbieten, wo doch Leistungssport an sich nicht eben gesund ist und auch nicht Gesundheit zum Ziel hat? Gelten für Marathonläufer dieselben Körpermerkmale als „gesund“ wie für Gewichtheber oder Lieschen Müller? Todesfälle im Leistungssport gibt es leider immer wieder, doch nur selten sind diese direkt auf die Einnahme verbotener Substanzen zurückzuführen. Jedoch sind es hauptsächlich diese Fälle, die öffentliches Interesse erregen.
Seite 2: Warum es an der Zeit ist, sich von dem Begriff "Doping" zu trennen
Fragwürdig an der offiziellen Doping-Definition ist weiterhin, dass sie auf der einen Seite auf sehr weit gefasste Ziele abhebt (gegen Gesundheitsschädigung und Leistungssteigerung), diese dann aber mit bestimmten Wirkstoffen und Methoden in Verbindung bringt. Und auch dies nicht einmal konsequent, denn die „Prohibited List“ beinhaltet auch Substanzen, die weder direkt gesundheitsschädlich noch unmittelbar leistungssteigernd sind. Interessant ist auch, was nicht auf der Liste steht: Die Leistungssteigerung, die durch das Absolvieren von Höhentraining eintritt, wird begrüßt, die so genannte „Eigenbluttherapie“ aber, das medizinisch betrachtet denselben Effekt erzeugt, gilt als „Doping“.
Warum tut man sich also so schwer mit einer klaren Definition von „Doping“? Die Antwort mag unangenehm sein, liegt aber dennoch auf der Hand: Es kann keine solche Definition geben. Der Begriff „Doping“ ist ein rein moralisches Gebilde, das weder die mit ihm in Verbindung gebrachten Praktiken sinnvoll zusammenfasst noch für die Gesellschaft sinnvolle Handlungsempfehlungen und Grundsätze formulieren kann. Dies ist der Grund, warum selbst prominente Anti-Doping-Krieger die grundsätzlichen Debatten über „Doping“ scheuen und sich lieber auf die konkrete Verbotsliste der WADA konzentrieren, unabhängig davon, dass diese auf sehr undurchsichtigen, ja willkürlichen Kriterien beruht.
Es ist an der Zeit, sich von dem Begriff „Doping“ zu verabschieden. Eine Gesellschaft, die einen sinnvollen und aufgeklärten Umgang mit dem eigenen Körper, mit Medikamenten und mit dem Leistungsstreben wünscht, sollte sich nicht von moralischen Hilfskonstrukten ohne Substanz blenden lassen. Eine „Beruhigung“ und Versachlichung der öffentlichen Diskussion wäre für Sportler wie auch für die Gesellschaft insgesamt wohltuend. So könnten offen und rational die verschiedenen Wege zur Leistungssteigerung diskutiert und diese Wege auch legal beschritten werden. Anstatt dies moralisch zu verurteilen, sollten der Sport wie auch die Öffentlichkeit diese Innovationen offensiv begrüßen.
Die Entwicklung und Verwendung leistungssteigernder Substanzen und Methoden aus der legalen Grauzone zu befreien, hätte auch positive Konsequenzen für die Sportler selbst. Öffentliche und somit transparente Forschung in diesem Feld wäre nicht nur erheblich effektiver, sondern auch deutlich ungefährlicher. Offenheit und Aufgeklärtheit im Umgang mit modernen Methoden der Leistungssteigerung würden auch im Breitensport das Problem des uninformierten und gesundheitsgefährdenden Konsums dubioser Substanzen, gerade auch unter Kinder und Jugendlichen, lösen helfen. Eine Gesellschaft, die in der Lage ist, sich des „Mythos Doping“ zu entledigen, wäre insgesamt eine optimistischere und freiere, denn sie wäre imstande, auch anderer Mythen zu knacken.
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