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(picture alliance) Wohin steuert Europa in Zeiten von Krise und Orientierungslosigkeit?

Herfried Münkler - Europa steht zur Disposition

Quo vadis, Europa? Wohin steuert Europa in Zeiten von Krise und Orientierungslosigkeit? Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler versucht sich im Interview mit CICERO ONLINE diesen großen Fragen zu nähern und erklärt, warum wir uns von alten naiven Europavorstellungen verabschieden sollten.

Herr Münkler, Homer etablierte den Mythos des Niedergangs als gängiges Motiv in der ideengeschichtlichen Kultur Europas. Mit Dante oder Machiavelli tauchte im späten Mittelalter der nostalgische Rückblick auf die Macht des Römischen Reiches auf. In jüngerer Zeit waren die Historiker Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee der Meinung, das Abendland sei dem Untergang geweiht. Alle diese Autoren, von Homer bis Toynbee, rühmen untergegangene Größen und kündigen gleichzeitig Katastrophen an. Untergangsszenarien sind insofern philosophisch tief verankert in der europäischen Ideengeschichte. Daher verwundert es nicht, dass derzeit dem europäischen Projekt ähnliche Entwicklungen prophezeit werden. Inwieweit ist Europa tatsächlich dem Untergang geweiht?

picture allianceDekadenztheorien und Niedergangsvorstellungen sind das Ergebnis eines grundsätzlich pessimistischen Blicks auf die Geschichte. Dafür gibt es in der europäischen Ideengeschichte eine Reihe von Beispielen und Vorbildern. Solche Negativ-Szenarien sind freilich zumeist nicht nur Beschreibungen des Niedergangs, sondern auch Aufforderungen, sich diesem Niedergang entgegenzustemmen, also im übertragenen Sinne das Peitschenknallen für die Pferde, die so noch mal in Bewegung gesetzt werden sollen. Das hat freilich immer auch etwas Gefährliches: Sobald sich nämlich die Vorstellung eines nahenden Endes in den Köpfen der politischen Akteure breit gemacht hat, neigen sie dazu Hasard zu spielen, also nicht mehr langfristig zu rechnen, sondern kurzfristig zu agieren. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges etwa haben solche Niedergangsängste die Politik bestimmt. Das ist in Europa zurzeit aber nicht der Fall. Die Europäer sehen ihren relativen Bedeutungsverlust gegenüber den USA, aber auch gegenüber China mit melancholischer Gelassenheit.

Vergleichen wir die momentane Situation Europas mit anderen Großmächten in der Geschichte, an welchem Punkt befindet sich die EU gerade? Sind wir, wie die Römer der Spätantike, beim letzten Kapitel unserer Geschichte angelangt?

Wir sollten davon Abstand nehmen, zu glauben, wir seien in der Lage, eine zuverlässige Kurve der Bewegung von politisch-ökonomischen Großräumen zu zeichnen und dann zu sagen, an welchem Punkt wir uns befinden. Die Geschichtsphilosophien unterschiedlichster Provenienz – von Polybius’ Zyklentheorie und Vergils Vorstellung vom ewigen Rom bis in unsere Zeit – haben uns immer wieder suggeriert, man könne so etwas mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit festlegen. Ich würde derlei Aussagen nicht treffen, zumal sich in letzter Zeit eine Reihe von Vorhersagen gar nicht bestätigen ließen. Der Aufstieg Chinas zum Beispiel ist nicht so unproblematisch verlaufen, wie es manche Ökonomen, die im Prinzip nur Zuwachszahlen des BIP extrapolierten, vorhergesagt haben. Entscheidende Faktoren, wie die Folgen der Ein-Kind-Politik und der demographische Wandel wurden kaum berücksichtigt. Ob die Europäer nur noch eine altersmüde Veranstaltung sind, die sich auf einer abschüssigen Bahn in den Orkus der Geschichte befinden, bleibt abzuwarten.

Also gibt es gute Gründe für einen vorsichtigen Optimismus?

Es gibt sicherlich Gründe für Zuversicht. Zuversicht als Grundlage für Tatkraft und Entschlossenheit. Der Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren ist ja auch ein Grund, jetzt nicht in einen hemmungslosen Pessimismus zu verfallen.

Hilft es da nicht auch, sich einmal daran zu erinnern, warum die europäische Integration überhaupt auf den Weg gebracht wurde? Ein solches Zurückblicken könnte gleichzeitig bei der Einordnung der heutigen Krise helfen, denn krisenhafte Zustände sind doch fast schon ein Wesensmerkmal europäischer Integrationsgeschichte und insofern systemimmanent.

Dass die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg nie krisenfrei verlaufen ist, ist ein entscheidender Punkt. Aber man sollte sich angesichts der Tiefe der gegenwärtigen Krise darüber im Klaren sein, dass jetzt mehr gefordert ist als das, was die Politiker gerne als das Drehen an den Stellschrauben bezeichnen. Diese Krise ist keine des Stillstands, wie frühere Krisen, sondern eine, in der das gesamte Projekt zur Disposition steht.

Was macht die neue Qualität aus?

An zwei Punkten lässt sich die fundamentale Dimension der Krise erkennen: Erstens, die deutsche Politik, die nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung maßgeblich befördert hat, war eine Kostenübernahme-Politik. Das Prinzip des sich Erkaufens von Freunden ist inzwischen sowohl an seine ökonomischen Grenzen als auch an die Akzeptanzgrenzen in der deutschen Bevölkerung gestoßen. Der zweite Punkt betrifft das Weiterführen Europas als reines Elitenprojekt. Wenn wir wirklich mehr Europa wollen, dann brauchen wir mehr europäische Demokratie. Aber in der gegenwärtigen Krise Europa zu demokratisieren, heißt die zentrifugalen Kräfte so sehr zu stärken, dass Europa scheitert. Es zeigt sich, dass die europäischen Institutionen, wie sie in den 1990er Jahren verabredet worden sind, ein Demokratiedefizit aufweisen, doch um dieses Demokratiedefizit abzubauen, müssen die europäischen Institutionen erst so umgebaut werden, dass sie demokratiekompatibel sind. Es sind also zunächst „one man, one vote“ Einflussverhältnisse herzustellen.

Haben es die Architekten Europas von Anfang an bzw. spätestens nach Maastricht, Nizza oder Lissabon nicht versäumt, das Wort Krise bei der Gestaltung mitzudenken?

Europa ist dummerweise nicht auf der Grundlage von worst-case-Szenarien gebaut worden. Über das Grundprinzip des „Nie wieder Krieg“ hinaus hatte man keine worst-case-Szenarien im Blick; wie etwa die momentane Entwicklung in Griechenland oder die Durchsetzung von Haushaltsdisziplin in Spanien und Italien. Letztlich sind die Verträge von Maastricht und Lissabon in der Erwartung formuliert worden, das schöne Wetter werde ein europäischer Dauerzustand sein.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, warum Europa gar nicht auf kulturellen Identitäten, sondern auf ökonomischer Leistungsfähigkeit basiert.

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Sie haben es angesprochen. Die europäische Integration war von Anfang an ein elitäres Projekt. Die Gründerväter der EU bzw. der EWG – von Monet bis Adenauer – glaubten, von oben auferlegte europäische Fakten würden letztendlich den Sinn für eine europäische politische Identität erzeugen. Doch all das bleibt eine schöne Vision, wenn die Bevölkerungen zunehmend euroskeptischer werden. Die EU wächst am Volk vorbei. Wie lässt sich dieses Dilemma auflösen?

In der gegenwärtigen Situation lässt es sich sicherlich nicht so auflösen wie Jürgen Habermas das vorgeschlagen hat, indem die Institutionen Europas einfach in höherem Maße demokratisiert werden. Ein solches Vorgehen würde die zentrifugalen Kräfte zu sehr stärken und hätte vermutlich zerstörerische Effekte; zumal Europa so kompliziert ist, dass es der Bevölkerung nicht vernünftig erklärt werden kann. Mit anderen Worten: Die Eliten müssen erst einmal die Fehler und Versäumnisse korrigieren, die sie gemacht haben. Die große Herausforderung ist ein Umbau der europäischen Institutionen, der Europa demokratiefähig macht. Das ist nicht leicht und wird sicherlich auch zu einer Fülle von Widerständen führen. Aber da eröffnet die Krise auch die Chance zum Umbau Europas. Um Europa neu zu beleben, müssen jedoch zwei Grundvoraussetzungen erfüllt werden: Erstens, ein paar an der Peripherie gelegene Länder – wobei Peripherie nicht räumlich, sondern sozio-ökonomisch und politisch gemeint ist – müssen damit rechnen, aus dem engeren Verbund Europas auszuscheiden. Und zweitens müssen wir bereit sein, konzeptionell über ein Europa nachzudenken, das tatsächlich einen inneren Kern hat, an das sich ein System aus Kreisen und Ellipsen anlagert. Wir müssen uns freimachen von der Vorstellung, wir könnten Europa im Prinzip wie einen großen Nationalstaat planen, in dem überall dieselben Bedingungen hergestellt werden müssen. Das funktioniert nicht. Dafür sind die Konstellationen zu unterschiedlich.

Ein Plädoyer für ein Europa nicht der zwei, sondern der drei Geschwindigkeiten? Ein Kerneuropa?

In meinem Modell gibt es einen Kernbereich, einen mittleren und einen äußeren Bereich. Dazwischen kann es dann Auf- und Abstiegsmöglichkeiten geben. Vergleichbar mit einem Ligasystem wie im Fußball. Aber es muss von vornherein klar sein, dass nicht alle drei Bundesligen in einem Verbund spielen. Nur so ist zu gewährleisten, dass die Griechen eine höhere Flexibilität hinsichtlich ihrer Währung haben, um spezifische Probleme abzufedern.

Das hieße, bleiben wir in der Fußballsprache, die Griechen müssten absteigen? Gleichzeitig aber auch die Briten, die ja quasi – dieser Logik folgend – aufgrund ihres mangelnden Integrationswillens in der politischen Peripherie Europas einzuordnen wären?

Ja, der Eintritt Großbritanniens in die EU war in vielerlei Hinsicht wichtig, aber auch problematisch, weil die Briten immer wieder wichtige politische Schritte blockierten. De Gaulle hatte seinerzeit sicherlich einen klareren Blick auf das Doppelspiel Englands als so manche EUphoriker späterer Tage. In meinem Modell gibt es abgestufte Kreise in politischer und auch in sozio-ökonomischer Hinsicht. Die Briten müssen sich dann entscheiden, in welcher Intensität sie bestimmte europäische Integrationsprozesse mittragen. Für den Fall des Nichtmitmachens muss auch klar sein, dass sie dann nicht in der ersten Liga mitspielen.

Insofern verdeutlich die Krise, dass wir nicht weniger, sondern mehr Europa brauchen, dass Probleme letztlich nur global – jenseits der Nationalstaaten – gelöst werden können. Eine solche Vertiefung, ein solches Mehr an Europa hieße aber auch, dass nationalstaatliche Souveränität zugunsten eines supranationalen Europas weiter abgegeben werden müsste, damit Europa dann tatsächlich auch mehr ist als die Summe seiner Mitglieder, mehr ist „als eine Momentaufnahme“, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle jüngst forderte.

Dann muss man aber wirklich bereit sein für ein Mehr an Supranationalität. Dann müssten für die Gewichtung der Bundesrepublik in der EZB ihre Einlagen und ihre wirtschaftliche Beteiligung gelten und das hieße dann, dass Malta faktisch nicht vorkommen würde. Im Unterschied zu jetzt, wo Deutschland nur das doppelte Gewicht hat wie Malta. Das hieße auch, dass in Straßburg die Sitze in Relation zur jeweiligen Bevölkerungsgröße vergeben werden müssten. Solange das nicht der Fall ist, funktioniert Europa zwangsläufig intergouvernemental, weil nur in der Intergouvernementalität die unterschiedlichen Gewichte der Länder abgebildet werden.

Aber ist ein supranationales Europa nicht noch anfälliger für Destabilisierungsprozesse? Ist die Gefahr dann nicht noch größer, sich weiter vom Bürger zu entfernen und so erst recht in eine Phase spätrömischer Dekadenzphase zu entgleiten? Und steigt dann nicht die Anfälligkeit für anfänglich erwähnte Untergangsszenarien?

Wenn wir aus dem Untergang Roms etwas lernen wollen, dann sollten wir aufhören mit der Schelle durch die Welt zu ziehen und zu rufen: „Hallo wir sind Europa. Kommt doch und macht mit und wir geben euch alle gleiche Rechte.“ Das ist im Prinzip eine zum Scheitern verurteilte Politik. Der vorschnelle Beitritt von Rumänien und Bulgarien beispielsweise, der in vielen Ländern das Sinti-und-Roma-Problem verschärft hat, hat im Ergebnis zentrifugale Kräfte in Gang gesetzt, über die vorher keiner nachgedacht hat. Auch die 1945er Parole „Nie wieder Krieg“ hat letztlich zu dem Irrglauben geführt: Je mehr mitmachen, desto besser. Das hat den Blick zu sehr auf Erweiterung um jeden Preis verengt. Den Vorwurf des „imperial overstretch“, den die Europäer gerne in Bezug auf US-amerikanische Hegemonie verlautbarten, hätten sie vielleicht besser auf sich selbst bezogen. Auch das Gerede über die christlich-jüdischen Wurzeln Europas, die gemeinsame kulturelle Identität hat in die Irre geführt. Heute wären wir doch heilfroh, wenn wir statt Bulgarien, Griechenland und Rumänien die Türkei als einen boomenden Markt in Europa begrüßen dürften. Stattdessen wurde von Werten und Identität geredet. Dabei wurde völlig vergessen, dass Europa gar nicht auf kulturellen Identitäten, sondern auf ökonomischer Leistungsfähigkeit begründet ist. Man hat Europa von Anfang an als „gemeinsamen Markt“ konstruiert, und auf einem solchen Markt spielen bestimmte Kriterien eine Rolle.

Herr Prof. Münkler, vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Timo Stein

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