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Merkel und die Flüchtlingskrise - Die Getriebene

Angela Merkel erlebt derzeit die schwierigsten Tage ihrer Amtszeit. Auch aus ihren eigenen Reihen werden die Forderungen nach einem Rücktritt lauter. Aber noch sitzt die Kanzlerin fest im Sattel. Im Frühjahr kann sich das ändern

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Die vergangene Woche hatte es für Angela Merkel in sich. Dienstag stundenlange Diskussion in der Bundestagsfraktion, Mittwoch an der CDU-Basis. Donnerstag früh Regierungserklärung, abends EU-Gipfel. Am Sonntag reist Merkel in die Türkei. Interviews im Fernsehen, bei Bild und FAZ. Man kann nicht sagen, die Bundeskanzlerin habe den Ernst der Lage nicht erkannt – angesichts von geschätzt mehr als einer Million Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen könnten. Und auch nicht den Ernst ihrer persönlichen Lage.

Es hilft Merkel wenig, dass sie in der Flüchtlingskrise bislang vieles richtig macht. Es hilft ihr wenig, dass sie sich nicht von dem CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer auf einen populistischen Pfad hat locken lassen. Eine Obergrenze zu nennen, würde nur dazu führen, dass alle nur darauf warten, dass diese Obergrenze geknackt wird. Merkel stünde blamiert da. Auch ein Zaun wäre ein haltloses Versprechen. Auf 3757 Kilometer summieren sich die deutschen Außengrenzen zu insgesamt neun Nachbarländern, allein die Grenze zu Österreich ist 815 Kilometer lang, die zur Tschechischen Republik 811 Kilometer. Hinzu kommt: Kein Zaun ist, wenn er denn einmal steht, so dicht, dass er nicht überwunden werden könnte.

Spätestens, wenn Tausende von Flüchtlingen auf der anderen Seite stehen und gemeinsam gegen den Zaun drängen, dann müsste ein solcher wieder geöffnet werden. Es sei denn, man ist bereit diesen gegebenenfalls militärisch zu schützen. Das wird Deutschland nicht tun können. Altkanzler Gerhard Schröder hat schließlich recht, wenn er mit Blick auf die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge aus Budapest fragt: „Was wäre wohl in Europa los gewesen, wenn Deutschland, vor dem Hintergrund seiner Geschichte, seine Hilfe verweigert hätte?“

Permanente Kritik aus Bayern


Angela Merkel steht trotzdem politisch unter gewaltigem Druck. Sie erlebt derzeit die schwierigsten Tage ihrer Amtszeit. Vor allem die permanente Kritik aus Bayern nagt an ihrem Nimbus einer Krisenkanzlerin, die immer dann zur Höchstform aufläuft, wenn der politische Druck steigt. Allen voran Horst Seehofer untergräbt derzeit vorsätzlich das Vertrauen der Wähler in die Kanzlerin.

Bis in die Union hinein ist der Schlachtruf „Merkel muss weg“ mittlerweile zu hören. Schon werden im politischen Berlin die ersten Wetten darauf abgeschlossen, dass die Kanzlerin die Flüchtlingskrise politisch nicht überlebt. Auch das Bild mit der Forderung „Merkel entthronen!“, das Parteifreunde bei der Zukunftskonferenz der CDU im sächsischen Schkeuditz hochhielten, wird die Kanzlerin nicht so schnell wieder loswerden. 

So wirkt Angela Merkel in diesen Tagen wie eine Getriebene. „Wir schaffen das“, hat Merkel Ende August verkündet, aber die Zahl der Deutschen und vor allem die Zahl der Christdemokraten, die an dieser Botschaft zweifeln, steigt. Zumal Flüchtlinge aus Syrien und vielen anderen Regionen der Welt weiterhin unkontrolliert nach Deutschland drängen. Schnell wird sich daran nichts ändern. Wir schaffen das, an diesem Anspruch wird Merkel in ihrer Flüchtlingspolitik gemessen werden.

Noch fest im Sattel


Viel erreicht hat sie allerdings noch nicht. Die Asylrechtsreform, die der Bundestag in der vergangenen Woche verabschiedet hat, enthält viel Symbolik. Vor allem kurzfristig wird diese kaum wirken. Die Staaten der Europäischen Union lassen Deutschland weitgehend im Stich, der türkische Präsident Erdogan lässt sich bitten. Und vor allem verlangt er einen hohen Preis. Auf den Winter zu hoffen und darauf, dass allein wegen des schlechten Wetters der Flüchtlingsstrom versiegt, könnte trügerisch sein. Ein Ende des Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen.

Erlebt die Bundeskanzlerin also schon bald ihren Gerhard-Schröder-Moment? Der sozialdemokratische Bundeskanzler hatte einst Teile seiner Partei mit seinen Agenda-Reformen gegen sich aufgebracht und flüchtete sich nach einer Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen 2005 in Neuwahlen, um einer innerparteilichen Revolte zuvorzukommen. Droht Merkel ein Aufstand ihrer Partei?

Noch nicht. Zumal sich die Lage von Gerhard Schröder vor zehn Jahren an einem entscheidenden Punkt von der Lage Angela Merkels unterscheidet. Schröder hatte eine Agenda, Merkel keinen Plan. Schröder konnte agieren, Merkel muss reagieren. Schröder wollte demonstrieren, dass er seine Politik durchsetzen kann. Merkel muss mit einem Krisenmanagement überzeugen, bei dem sie von der Unterstützung einiger Partner abhängig ist, die nur begrenzt bereit sind, Deutschland in seiner misslichen Lage zu helfen. Die Herausforderung von Merkel ist somit eine ganz andere.

Allen Spekulationen zum Trotz jedoch, sitzt die Kanzlerin noch fest im Sattel. Noch hat Merkel in ihrer Partei viele Fürsprecher, ihre Stellvertreter schirmen sie gegen innerparteiliche Kritik ab, auch einflussreiche Konservative in der Partei, wie Finanzminister Wolfgang Schäuble und Fraktionschef Volker Kauder haben Merkel zuletzt öffentlich den Rücken gestärkt. Auch der mitgliederstarke Landesverband Nordrhein-Westfalen steht geschlossen hinter der Kanzlerin.

Landtagswahlen im Frühjahr entscheidend


Gleichzeitig hat Merkel demoskopisch noch Luft. Bei der Sonntagsfrage war ihre Lage in den letzten Jahren schon manches Mal bedrohlicher als derzeit. Im Oktober 2006 zum Beispiel lag die Union im Deutschlandtrend der ARD bei 30 Prozent und vor allem die SPD drei Punkte davor. Im Oktober 2010 lag die Union bei 31 Prozent. SPD und Grüne lagen zusammen bei 49 Prozent und bereiteten sich bereits auf die Regierungsübernahme vor. Es kam 2013 bekanntermaßen anders, viel hat nicht gefehlt und die Union hätte sogar die absolute Mehrheit erreicht.

Viel Zeit bleibt Merkel allerdings nicht. Denn die unkontrollierte Einwanderung wird von den meisten Wählern jenseits aller Debatten über den Islam, die Unterbringung der Flüchtlinge und über die Kosten der Flüchtlingskrise auch als Staatsversagen wahrgenommen. Und damit als Versagen der Union in einem Politikfeld, das ein Teil ihrer Kernkompetenz ausmacht. Je länger Flüchtlinge unkontrolliert einwandern, desto mehr nimmt damit der Markenkern der CDU schaden.  

Spätestens nach den drei Landtagswahlen am 13. März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wird deshalb innerparteilich abgerechnet. Nach Lage der Dinge wird der Wahlkampf im Frühjahr kommenden Jahres nicht nur von der Flüchtlingskrise bestimmt werden. Die drei Landtagswahlen werden auch eine Vertrauensabstimmung über die Kanzlerin sein. Eigentlich hatte die CDU fest eingeplant, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz von Grünen und SPD zurückzugewinnen und Sachsen-Anhalt zu verteidigen. 18 Monate vor der Bundestagswahl sollte so der Grundstein für einen erfolgreichen Bundestagswahlkampf 2017 gelegt werden.

Alle politischen Zumutungen der Kanzlerin hat die CDU in den letzten zehn Jahren auch deshalb ertragen, weil Angela Merkel die Macht garantierte. Beginnen die Christdemokraten nach den Landtagswahlen im Frühjahr daran zu zweifeln, dann könnte es für Merkel in ihrer Partei ungemütlich werden. Fünf Monate hat die Getriebene noch Zeit.

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