Wenn Die Linke ihr Klientel aus den Augen verliert, muss es vielleicht wer anders richten / dpa

Ukraine-Krieg, Energiekrise, Existenzängste - Exklusiv für Xing-Leser: Eine neue Linke braucht das Land

Die Linke scheint planlos und heillos zerstritten. Die Zerwürfnisse innerhalb der Partei gehen so weit, dass das Ende nur noch Formsache scheint. Dabei wäre eine linke Kraft, die modern ist, aber nicht dem Zeitgeist hinterherrennt, linke Ideen liberal interpretiert, pragmatische Lösungen für soziale Ungleichheiten bietet und sich vehement stemmt gegen zu viel Staat, eine Bereicherung für die deutsche Parteienlandschaft – und überaus zeitgemäß. 

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Die Linkspartei befindet sich in einer grotesken Situation. Obwohl in der Ukraine Krieg ist, Inflation, Wirtschafts- und Energiekrise die Gemüter erregen, die Existenzängste nicht nur der Unterprivilegierten, sondern auch der gewöhnlichen Mittelschicht zunehmen, weshalb ein „heißer Herbst“ mit Protesten aus der Mitte der Gesellschaft droht, ist ausgerechnet Die Linke mehr mit internen Streitereien beschäftigt als mit der Welt um sie herum – und zerlegt sich dabei konsequent und für den externen Beobachter bisweilen durchaus unterhaltsam selbst. 

Der letztlich missglückte Versuch einzelner Genossen, Sahra Wagenkecht aus der Bundestagsfraktion auszuschließen – obwohl sie in jener Bundestagsrede, die Stein des Anstoßes war, nicht mehr gefordert hatte, als die Sanktionen gegen Russland so zu gestalten, dass die deutsche Bevölkerung darunter nicht leiden müsse – ist nur die Spitze des Eisbergs. Und Wagenkecht scheint letztlich auch nur Projektionsfläche für die Wut mancher Genossen, dass sich die Leute im Land mehr für den eigenen Geldbeutel und die nächste Stromrechnung interessieren, als für identitätspolitischen Kram und weltfremde Symbolpolitik. 
 


Überhaupt entfaltet diese linke Tragikomödie ihr volles Potenzial erst im Kleinen. Zum Fremdschämen war beispielsweise ein Vorfall bei der 1. Tagung des 8. Parteitags der Die Linke der Hansestadt Hamburg vor wenigen Wochen (s. Tweet oben). Und sehr bezeichnend obendrein. Der Linken-Politiker Bijan Tavassoli wollte – ohne selbst anwesend zu sein, weil er angeblich an Corona und Affenpocken gleichzeitig (!) erkrankt gewesen war – erfolglos für den Posten der Parteisprecherin und für die Frauenliste zum Vorstand kandidieren. Denn Tavassoli identifiziert sich laut eigener Aussage jetzt als Frau, Vollbart hin oder her. Jedenfalls trat bei genannter Veranstaltung dann ein vermummter Mann auf die Bühne und verlas eine Erklärung Tavassolis, die, so hieß es später, gar nicht von ihm oder ihr gewesen sei. Spielt aber keine Rolle. Denn bemerkenswert war der Auftritt trotzdem. 

Diese Erklärung – unbeirrt, aber holprig wurde sie vom Smartphone abgelesen – war nämlich eine krude Mischung aus Beleidigungen gegen Teile der eigenen Partei, einer mantraartigen Selbstvergewisserung als trans, non-binär oder was auch immer stets Opfer der bösen Mehrheitsgesellschaft zu sein, und ein wütender Abgesang auf die „heteronormative“ Welt da draußen. Im Wortlaut war unter anderem zu hören: „Ihr alten weißen Männer seid auf dem Müllhaufen der Geschichte.“ Wäre diesem Totalausfall ein Drehbuch vorangegangen: Jeder verantwortungsbewusste Produzent hätte es mit der Begründung abgelehnt, es sei völlig überdreht und unrealistisch. 

Nur Vielfalt schützt vor Einfalt

Doch das echte Leben schreibt bekanntlich die sonderbarsten Geschichten. Und offensichtlich scheint vor allem das Linksaußen-MiIieu prädestiniert zu sein für ein Mitläufertum, das jedem Zeitgeist hinterherrennt, dabei komplett den eigenen Kompass verliert und letztlich auch den Bezug zur Realität und dem, was die Menschen im Land wirklich umtreibt in Zeiten sich überlagernder Krisen. Es ist freilich nicht neu, dass Parteien Politik für Menschen machen, deren Sorgen und Nöte sie nur vom Hörensagen kennen. Die Dimension, die derlei bei der Die Linke mittlerweile erreicht hat, ist dennoch einzigartig. 

Nun wäre es ein Leichtes, sich über solche Vorfälle lustig zu machen – und sich sukzessive damit abzufinden, dass nicht die alten, weißen Männer der Linken auf dem Müllhaufen der Geschichte landen, sondern gerade Stück für Stück die ganze Partei. Insbesondere als Liberaler, der schon der SED-Vergangenheit der Partei wegen niemals auf die Idee kommen würde, selbige zu wählen.

Allerdings ist eine pluralistische Parteienlandschaft für jede Demokratie zwingend, weil nur politische Vielfalt vor politischer Einfalt schützt. Und zu einer solchen Vielfalt gehört in Deutschland, nüchtern betrachtet, eben auch eine starke linke Partei. Überdies kennt der Autor dieser Zeilen sehr kluge und vernünftige Menschen, die trotzdem in der Linken aktiv sind – und zunehmend desillusioniert mit Blick auf die eigene Partei, was einem schon auch ein bisschen leid tun kann. 

Auf dem Weg zur Regionalpartei im Osten 

Denn mit den Grünen, das wissen diese Bekannten und einige Leute mehr in der Bundesrepublik, haben wir ja bereits eine Zeitgeistpartei, die regelmäßig auf Basis wirrer Überlegungen wirre, manchmal – wie bei den Themen Homöopathie oder binäres Geschlechtersystem – geradezu wissenschaftsfeindliche Positionen vertritt. Und so wie bei den Konservativen lange das Credo gegolten hatte, rechts neben CDU/CSU dürfe sich keine politische Kraft etablieren, so wäre es eigentlich an der Linken, auf der anderen Seite des politischen Spektrums fest im Sattel zu sitzen, statt sich selbst zur Regionalpartei im Osten zu degradieren, wo ihr ohnehin längst Stimmen an die AfD verlorengehen. Und zwar gar nicht so wenige. 
 

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Denn selbstverständlich brauchen auch die Armen, die Arbeiter und die Gewerkschafter ein politisches Angebot, das einigermaßen zu ihren Lebensrealitäten passt. Insbesondere, weil sich die SPD schon längst von der Arbeiterschaft abgewendet und dem akademischen Milieu zugewandt hat. Und für viele Menschen, die früher linkes Wählerklientel gewesen wären, kann die AfD entgegen ihres Namens eigentlich keine Alternative sein, sondern maximal eine Überganglösung, die mehr mit einer Proteststimme zu tun hat, als mit der Überzeugung, es sei ausgerechnet die einstige Professoren-Partei, die für Gerd aus Gelsenkirchen und Murat aus Berlin-Neukölln Politik machen würde. Von der Zahl der Wirrköpfe innerhalb der AfD, die seit Jahren eher zu- als abzunehmen scheint, ganz zu schweigen. 

Der linke Phönix aus der Asche

Unterm Strich gibt es nun genau zwei Lösungsansätze, um das Dilemma am linken Rand zu beenden. Lösungsvorschlag nummero uno: Wir warten einfach ab, bis der Müllhaufen der Geschichte, den die Die Linke gerade mit sich selbst baut, groß genug ist, um das Ding anzuzünden und hoffen, dass mit den Rauchschwaden auch die Zeitgeister, die Die Linke rief, entschwinden. Dass sich die Linke also tatkräftig weiter selbst zerstört, um dann vielleicht wie Phönix aus der Asche mit neuem Personal und neuen Ideen einen Neuanfang zu wagen. Damit kennt sich die Partei ja bestens aus. 

Oder nummero due: „Es braucht eine neue linkspopuläre Kraft in Deutschland. Im besten Fall müsste sich das linksliberale Bürgertum wieder mit dem Proletariat vereinen.“ Sie ahnen es wegen der Anführungszeichen schon: Diese Forderung kommt nicht, jedenfalls nicht direkt vom Autor dieser Zeilen, sondern von dem Schriftsteller Christian Baron, der jüngst in einem lesenswerten Cicero-Interview mit Politikern und Ottonormal-Bürgern abrechnete, die von sich behaupten, links zu sein, es bei näherer Betrachtung aber gar nicht sind. Die Wohlstands-Kids von Fridays for Future zum Beispiel. 

Baron muss es wissen, denn er ist – und da schließt sich wiederum der Kreis zum Autor – einem Milieu entsprungen, das eigentlich Kernwählerschaft der Linken sein müsste. Ein nicht-akademisches Milieu nämlich, das weiß, wie es sich anfühlt, wenn regelmäßig noch mehr Monat da ist als Geld in der Haushaltskasse. Weiter sagte Baron: „Eine neue linke Partei könnte dafür sorgen, dass die Menschen ihre Würde wiedererlangen. Keine moralische Besserwisserei, keine Belehrungen. Diese Kraft müsste versuchen, die sozialen Ungerechtigkeiten unserer Zeit anzugehen, anstatt sich aus dem Elfenbeinturm heraus auf weltfremde Winnetou-Debatten zu stürzen.“

Wie müsste eine moderne Linke aussehen?

Die Idee einer Alternative zur Linkspartei ist nicht neu. Etwas in die Richtung hat erwähnte Frau Wagenkecht bereits vor vier Jahren mit ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“ versucht. Nämlich, den Grundstein zu legen für eine neue linkspolitische Stimme im Land. Doch spätestens mit ihrem krankheitsbedingten Rückzug aus dem Verein im März 2019 ist das Vorhaben dann eingeschlafen, sofern es überhaupt jemals wirklich Fahrt aufgenommen hatte, was sich an dieser Stelle nicht final klären lässt. Gleichwohl lässt sich feststellen: Die Zeiten waren nie besser, um einen erneuten Anlauf für ein solches Projekt zu wagen

Wenn Sie mich fragen, müsste eine moderne Linke in etwa so aussehen: Sie bräuchte ein marxistisches Fundament, sollte sich aber nicht scheuen, linke Ideen modern und liberal zu interpretieren. Den ganzen Gender-Firlefanz streichen wir ganz und Identitätspolitik sollte dort nur insofern stattfinden, dass die Unterprivilegierten und Arbeiter immer im Mittelpunkt des politischen Programms stehen. Sie sollte streitlustig sein, aber offen für andere Perspektiven und politische Positionen. Nah dran an den Leuten, weit weg vom Staat, etwa bei den Corona-Maßnahmen. Geerdet auch, mit klarem Abstand zur sich totstreitenden Ex-SED-Konkurrenz. Und vor allem sollte sie sich nicht aufhalten mit wirren Erklärungen auf irgendwelchen Parteitagen. Wenn Die Linke dann endgültig in Rauch aufgeht, wäre ihre Stunde gekommen. 
 

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